Zwischen Kunst und Wahn

Die Zeitschrift Scientific American zeigt die Reproduktion einer Kinderzeitschrift, in der die Bilder der Waise Mary veröffentlicht wurden. Aufgewachsen mit einer Bewusstseinsspaltung, fand sie ihren Weg der Genesung in der Kunst.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Ein Artikel von Jane Textor

Chicago – eine der Sommer-Nummern der großen wissenschaftlichen Zeitschrift „Scientific American“ brachte auf der Titelseite die Reproduktion einer Kinderzeichnung. Mit wenigen, ungelenken Strichen eines Kindes, das nichts von anatomischen Gesetzen weiß und nur seinen Gedanken und einem unbewußten Empfinden Ausdruck verleihen will, ist das Gesicht eines kleinen Mädchen festgehalten, das so trostlos, so unkindlich traurig in die Welt blickt, daß es beklemmend wirkt. Wie der dazugehörende Artikel erklärt, ist es, ebenso wie eine Reihe anderer Zeichnungen, die den Artikel illustrieren, das Werk eines schizophrenen kleinen Mädchens. Das Kind leidet an Bewußtseinsspaltung, es ist, wie man so sagt, „nicht normal“. Es ist eine Waise. Der Vater starb, kurz nachdem es zur Welt gekommen war. Als es drei Jahre alt war, starb die Mutter, und die kleine Mary wurde der Obhut gleichgültiger Verwandter anvertraut, die das scheue, eigenartige Kind nicht zu behandeln wußten und es in das der Universität Chicago angeschlossene Heim für schwer erziehbare Kinder steckten. Mary machte es ihren Erziehern nicht leicht. Sie spielte nicht mit den anderen Kindern, vergrub sich tagelang in irgendeine Ecke oder versetzte ihre Umgebung durch plötzliche Wutausbrüche in Schrecken. Sie war es gewohnt, wie eine Ausgestoßene behandelt zu werden und erwartete auch hier, in der neuen Umgebung, nichts anderes. Aber mit unendlicher Geduld und Liebe kamen ihr die Pflegerinnen entgegen. Man wußte nur zu genau, daß das Kind nicht aus angeborener Bosheit trotzte.

Es war einfach unglücklich und vernachlässigt – nicht körperlich zwar, dafür aber um so mehr seelisch. Man ließ ihm nun all die Fürsorge angedeihen, die es als Kleinkind hatte entbehren müssen. Allmählich gewöhnte Mary sich an die gleichmäßig gute und freundliche Behandlung, sie beruhigte sich, sie begann mit den anderen Kindern zu spielen und entdeckte – was sie gesund machen sollte – eine Kiste mit vielen bunten Malstiften und einen Tuschkasten mit Farbe und Pinsel. Mit Stiften, Farbe und Pinsel konnte sie dem Papier anvertrauen, was sie niemandem zu sagen vermochte, weil ihr kleines Gehirn dafür keine Gedanken formen konnte. Damit begann automatisch ein langsamer, aber äußerst wirksamer Selbstheilungsprozeß. Alles was das Kind malte, sagte, wie tief unglücklich es war, daß es sich nach der Mutter sehnte, die sie liebhaben und ihr gute Dinge kaufen wollte. Die Zeichnung zeigt zwei Bären, eine Bärenmutter und ein Bärenkind. Der guten Bärenmutter hängt ein Spruchband aus dem Maul (nach Art der amerikanischen Comic-Strips): „Ich gehe in den Laden und kaufe dir Eis und Konfekt und Kuchen“. Auf einem anderen Bild sagte kleine Mary aus, wie froh sie war, ein Haus gefunden zu haben mit einem Zaun, einem rauchenden Schornstein und einem kleinen Bach, ein richtiges Heim, in dem man warm und geborgen lebt. Eine besondere Rolle in der kindlichen Welt des Mädchens spielte lange Zeit das Grab der Mutter, die sie liebgehabt hatte und nach der sie sich sehnte. Drei Jahre später aber sahen die Bilder bereits ganz anders aus. Auch das Kind hatte sich geändert. Es war keineswegs mehr schwermütig und „anders“. Mit lebhaften strahlenden Augen blickte es in die Welt. Das Kind hatte sich „gefunden“.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Für die Frau“ vom 19.11.1952 unter dem Titel "Ein Bündel Malstifte – ein schizophrenes Kind malt sich gesund". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „In Schönheit verhungern“ und „Über die Freiheit zur Selbstdisziplin“ , klicken Sie bitte hier.

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