Wie das Ballett den amerikanischen Tanz prägte

Das Ballett als eines der ältesten Tanzstile genoss wachsende Popularität in den Vereinigten Staaten, bis es letztlich fester Bestandteil amerikanischer Kultur wurde. Lesen Sie den Artikel über die Entwicklungen dieser Kunstform zwischen 1908 und 1958 in Amerika.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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Ein Artikel von Margaret Lloyd

Tanz, die älteste Kunstform der Welt, ist erst in den letzten 50 Jahren, in verstärkstem Maße in den letzten 25, zu einem lebendigen Bestandteil des amerikanischen Lebens geworden. Im Jahre 1908 war ein Ballett ein rarer, hauptsächlich importierter Kunstgegenstand. Ein Durchschnittsamerikaner kannte ihn kaum.
Damals trug Isadora Duncan ihre revolutionäre, von der klassischen Tradition gelöste Auffassung eines befreiten Tanzes nach Europa und Rußland hinein. Niemand dachte jedoch an den modernen amerikanischen Tanzstil, der letztlich aus ihrer Auffassung erwuchs.
Ähnlich bahnbrechend wirkte eine andere amerikanische Nonkonformistin, Ruth St. Denis, mit ihren „Orientalischen Impressionen“. Abgesehen von den Indianern, die unter sich nach ihren alten Riten tanzten, hatte man kaum etwas von dem gehört, was man heute ethnologischen Tanz nennt.
Heute 1958, gehen die Amerikaner mit der Selbstverständlichkeit zu einem Ballettabend wie zu einer Theateraufführung. Sie sehen das Royal Ballet aus London, Tänzer aus Bali, Shanta Rao und ihre Gruppe aus dem Süden Indiens, Tänzer aus Israel, Ballett und die Berjozka-Volkstanzgruppe aus der Sowjetunion. In New York feiern sie die beiden Exponenten des modernen Tanzes Martha Graham und José Limón und ihre Gruppen mit stürmischen Ovationen – Martha Graham in einer griechischen Mythologie entlehnten Studie, „Klytaemenstra“, José Limón in „Missa Brevis“ zu der Musik von Kodaly. Die „West Side Story“ von Jerome Robbins und Leonard Bernstein setzte den Broadway-Musicals ein neues Glanzlicht auf. All dies sind nur Höhepunkte der mannigfaltigen Tanzereignisse zwischen Atlantik und Pazifik. Zur gleichen Zeit gewann die in den USA ausgebildete kubanische Tänzerin Alicia Alonso, die mit russischen Balletttruppen tanzte, des sowjetische Publikum; das American Ballet Theater trat im Rahmen einer Europatournee auf der Brüsseler Weltausstellung auf; das New York City Ballet gastierte in Japan und Australien; das San Francisco Ballet ging nach Südamerika; und Robbins' „Ballets USA“ war eine freudige Überraschung des Festivals in Spoleto und der Weltausstellung.

Was ist zwischen 1908 und 1958 geschehen?

Anna Pawlowa, die 1910 zum erstenmal in den USA tanzte, von 1913 bis 1925 jährlich mit einer eigenen Truppe wiederkehrte und das ganze Land eroberte – jedes junge Mädchen, das sie sah, wollte Ballettstunden nehmen –, bereitete den Boden für ein zukünftiges amerikanisches Ballett und seine Anerkennung.
Ruth St. Denis beeinflußte einen anderen Typ der jungen Menschen. Als sie gemeinsam mit dem Tänzer Ted Shawn 1915 die Denishawn-Schule gründete, ließ ihre barfüßige, modifizierte Balletttechnik den Tanz zu einer eigenständigen Kunstform werden.
Die Sensation des Jahres 1916 war das Diaghilew-Ballett. Einige seiner Stars, so Michael Fokine, aber auch Michael Mordkin, einst Partner der Pawlowa, verpflanzten seine modernen Auffassungen als Lehrer und Choreographen nach Amerika. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre tauchten andere großen Namen auf – Argentina, der spanische Tänzer, Mary Wigman mit ihrem neuen in Deutschland entwickelten Ausdruckstanz und Uday Shankar in Tänzen aus Indien.
Die eigentliche Renaissance des Tanzes in den Vereinigten Staaten jedoch setzte 1933 ein, als Colonel de Basil das Ballet Russe de Monte Carlo zusammenstellt, Kurt Jooss sein Ballett gründet, Lincoln Kirstein und George Balanchine die School of American Ballet eröffnen und damit den Keim zum heutigen New York City Ballet legen, Shawn eine Truppe organisiert, die nur aus männlichen Tänzern besteht, jährliche Tanzfestwochen ihren Anfang nehmen und der moderne amerikanische Tanz mit Martha Graham, Doris Humphrey und Charles Weidmann zum Durchbruch kommt.
Häufig führt der Weg des Publikums zum Tanz über die Stationen Gleichgültigkeit, Akzeptation, Begeisterung. Das Ballett ist mehr als Magie der Farbe und Darstellung, Musik und Bewegung. Es ist exemplifiziert – Schönheit und Anmut, Balance, Körperbeherrschung, Disziplin, Rhythmus, Liebenswürdigkeit, Ordnung, Harmonie. Das Ballett vermittelt eine idealisierte Schau des Menschen. Der moderne Tanz auf der anderen Seite gibt eine realistischere Sicht, ohne dabei naturalistisch oder pantomimisch zu sein. Er zeigt den Menschen auf der ihm eigenen menschlichen Ebene, in dem geheimen Bereich des Herzens und der Seele. Er übersetzt und paraphrasiert die von Verstand oder Gefühl eingegebene natürliche Bewegung und Gestik in eine neue Sprache des Tanzes, regellos, individuell. Er fügt, da die Stimme den Menschen erst vollständig macht, wenn nötig, Worte oder Vokalmusik hinzu. Er zögert auch nicht, ein kleines Lachen einzuweben. Der Mensch – unidealisiert – kann ganz komisch sein.

Eine Tanzdarbietung ist eine Art Erfüllung.

Jede Tanzform gibt etwas, das Widerhall finden muß, denn jede trägt für die Menschheit Allgemeingültiges in sich. Die Lebenslust des Volkstanzes, die heitere Gelassenheit des Hindu-Tanzes, die Leidenschaft des primitiven Tanzes rühren an das Unterbewußtsein, weiten die Horizonte, vertiefen das Verständnis. Der ethnologische Tanz mit seinen fremdartigen Kostümen und exotischer Musik vermittelt Einblick in andere Möglichkeiten des Denkens, Fühlens und Handelns. Und alle Formen gemeinsam lassen eine universale Ganzheit des Tanzes entstehen. Es ist daher nicht überraschend, daß diese Kunstform die den Rassen der Welt seit den Anfängen der Welt angeboren ist, in einem Land, das aus vielen Kulturquellen gespeist wird, so festen Fuß gefaßt hat. In den letzten 50 Jahren des amerikanischen Sichbewußtwerdens wurden Musik und Bühnenbild beeinflußt, wurden in steigendem Maße Bücher über alle Phasen des Tanzes veröffentlicht, wurden Tanz-Festwochen, Tanzmagazine und Tanzkritiken zur Gewohnheit.
Der Tanz hat mir dem Zeitalter der Technik Schritt gehalten; er hat sich des Films, des Fernsehens, des Radios und der Schallplattenindustrie bemächtigt. Eine vertraute Ballettmusik, sagen wir die klassische „Giselle“, läßt vor den Augen derer, die das Ballett kennen, eine Choreographie lebendig werden.
Heute, im Jahre 1958, können wir voll Verwunderung zurück und voll Erwartung in die Zukunft blicken. Die Entwicklung städtischer Ballette und regionaler Ballettfestivals in allen Teilen der USA ist ein gutes Omen für die Zukunft. Der moderne Tanz wagt sich wie die moderne Malerei ins Abstrakte, Unbekannte vor, weiter als das traditionsgebundene Auge sehen kann. Ständig ist ein Experimentieren, Gären, Durchdringen – Wachsen – im Tanz. Ständig gehen wir neue Ausblicken entgegen.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 19.12.1958 unter dem Titel "Zwischen 1908 und 1958 – Der Tanz als Bestandteil der amerikanischen Kultur". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: "Die Weltmeere als Rohstoffquelle von morgen", oder "Die kommunistische Studenten-Internationale", klicken Sie bitte hier.

Wie das Ballett den amerikanischen Tanz prägte