Eine Weihnachtsgeschichte aus Abe Lincolns Jugendzeit

Am 9. Februar 1959 begehen die Vereinigten Staaten den 150. Geburtstag von Abraham Lincoln. Im Gedenken an einen der größten Söhne Amerikas wird in dieser Ausgabe des Amerika-Dienstes eine Weihnachtsgeschichte aus den Kindertagen des 16. Präsidenten gedruckt.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Am 9. Februar 1959 begehen die Vereinigten Staaten den 150. Geburtstag von Abraham Lincoln, ihres 16. Präsidenten. Amerika verehrt ihn als einen seiner größten Söhne.
Nachstehend eine Weihnachtserzählung aus Abe Lincolns Jugendzeit.

Spencer County (Indiana) – Die Frau schaute nach ihren beiden Kinder aus, die draußen auf der frisch gerodeten Lichtung spielten. Sie stand in einer Hütte, deren eine, der Lichtung zugewandte Seite offen war. Als man vor zwei Monate Indiana und diesen Platz erreichte – es war ein klarer, kalte Oktobertag -, hatten die Blätter noch wie ein bunter Schal um die schnell errichtete Hütte gehangen. Nun bedeckten sie feucht und faulig die Erde. Aber einige dieser goldenen Ahornblätter hatte die Frau aufgesammelt und zwischen die Seiten ihrer abgegriffen Bibel gepreßt.
Es war kalt in der Hütte. Die noch allzu frischen Buchenscheite in der Feuerstelle gaben nur wenig Wärme. „Man müßte ein neues Bärenfell haben“, dachte sie bei sich, in Sorge, wie die Kinder wohl die kalten Winternächte überstehen sollten. Die Frau zog ihr Tuch etwas enger um die schmalen Schultern und hüstelte. Das Tal des Ohio war neblig und kalt. - Aber da erhellte ihre müden Züge ein Lächeln: sie mußte an die getrockneten Früchte denken. Als sie im Herbst das Obst zum Trocknen auffädelte, hatte sie einige Scheiben zurückbehalten, hatte sie in Honig getaucht und aufbewahrt. Nun waren sie süß und mit schönen goldgelben Kristallen besetzt.
Morgen war Weihnachten. Bei armen Farmersleuten und Holzfällern gab es keine Geschenke. Ein wenig mehr zu essen und eine kleine Zuspeise, die es nicht alle Tage gab, und nach dem Essen einmal keine Arbeit mehr, das war alles. Der Vater hatte einen Fasan mitgebracht. Den wird sie morgen mit weichem Brot und Kräutern füllen. Dann gibt es Haselnüsse, die die Kinder nach Hause gebracht hatten. So werden sie ihre erste Weihnacht in Indiana feiern.
Es war spät geworden, ehe die Frau ihre Familie zur Ruhe gebracht hatte. Die Kinder wurden in Decken gewickelt und mit dem schon recht schäbigen Bärenfell zugedeckt. Sie lagen nahe der Feuerstelle, Rücken an Rücken und neckten sich. Ihr Mann schlief bereits, als sie sich voll angekleidet neben ihn niederlegte.
Der Wind knarrte im Geäst des großen Feigenbaumes vor der Hütte, und die Schreie der Iltisse und Marder, die die anschließende Waldung bevölkerten, drangen zu ihr herein.
Als alles ruhig war, erhob sie sich wieder von ihrem Lager, zündete ein Talglicht an und holte aus der Kommode die Blechschachtel, die sie von Kentucky mitgebracht hatte. Behutsam nahm sie die kandierten Obststückchen heraus und legte sie neben ihre Bibel. Sechzehn köstliche Leckerbissen.
Plötzlich wurde sie sich ihrer grenzenlos Armut bewußt. Was hatten die Kinder schon gehabt? Das Notwendigste nur. An diesem Weihnachtsabend in der dunklen Hütte war die Armut und Verlassenheit so nahe.
Aber war es nicht doch undankbar, so zu denken? Sollte sie Gott nicht von Herzen danken, daß er sie und die Kinder vor Krankheit bewahrt hatte? Hatte er sie nicht sicher geleitet auf diesem Weg in eine neue Heimat? Sollte sie nun verzagt sein? Nein, sie hatte wahrlich keinen Grund zu klagen.
Sie wurde ganz ruhig. Aus der Bibel holte sie die bunten Blätter hervor, rollte die Fruchtstückchen sorgfältig hinein, befestigte diese goldfarbige Hülle mit einem Dorn und steckte sie in die Strümpfe der Kinder, die nahe der Feuerstelle über einem Stuhl hingen.
Zitternd vor Kälte kroch sie neben ihren Mann, löschte das Talglicht und stellte es neben sich auf den Boden. Nun war es ganz dunkel in der Hütte, nur der Schein der Glut beleuchtete rötlich und warm die kleinen Kindergesichter. Sie wußte, sie würden glücklich sein über ihren Fund. Sarah, ihre kleine Tochter, und Abe – Abraham Lincoln – ihr Sohn.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst vom 05.12.1958 unter dem Titel "Weihnachten in der heimatlichen Hütte eines großen Mannes – eine Weihnachtsgeschichte aus der Kinderzeit Abe Lincolns". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: „Poststempel: Santa Claus“, oder „Gibt es ihn wirklich, den Weihnachtsmann?“, klicken Sie bitte hier.

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