Realitätscheck Ungarn: George Orwells 1984 nah an der Wirklichkeit

"Stalin war unser Großer Bruder und die AVO unsere Gedankenpolizei. Bei uns gab es schon 'Person' und 'Unperson' … und wenn die Kommunisten vom Guten sprachen, bedeutete es Böses.“ Für die einen war George Orwells Roman "1984" nichts weiter als ein "böses Märchen" – für die ungarische Bevölkerung hingegen gelebte Realität. Der geflohene ungarische Journalist Geza Karpati liefert Einblicke in die Lebensumstände des Ungarns um 1957.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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In den vergangenen Jahren machte in Budapest heimlich ein Buch die Runde, das man dort zu den bekanntesten Publikationen des Westens rechnet. Es handelt sich um George Orwells Roman „1984“. Darin wird eine künftige Welt beschrieben, in welcher der stets gegenwärtige „Große Bruder“ sämtliche Handlungen und Gedanken jedes einzelnen Menschen in seinem Machtbereiche kennt. In der „Neusprache“, die sich dieser hypertotalitäre Staat geschaffen hat, heißt „schlecht“ soviel wie „gut“; „Liebe“ soviel wie „Hass“. Das Leben in dieser Welt ist von der „Gedankenpolizei“ vollkommen reglementiert. Die Ministerien sind dazu da, Denken und Leben aller in die vorgeschriebenen Bahnen zu lenken. Es ist ein Leben unter Symbolen und Schlagworten, die sämtlich keinen anderen Inhalt haben als die Forderung nach Gehorsam und Loyalität gegen den Staat.

Der ungarische Journalist, Geza Karpati, der kürzlich als Flüchtling den Sprung über die österreichische Grenze schaffte, erzählte, wie die wenigen nach Ungarn geschmuggelten Exemplare des Romans die Runde in Budapest machten, zerlesen und von tausend Händen abgegriffen.

„Ihnen im Westen mag das Buch wie ein böses Märchen vorgekommen sein“, meinte Karpati – vielleicht ähnlich Gullivers Reisen. Aber für uns in Ungarn war es die Geschichte unseres eigenen Lebens. Stalin war unser Großer Bruder und die AVO unsere Gedankenpolizei. Bei uns gab es schon 'Person' und 'Unperson' … und wenn die Kommunisten vom Guten sprachen, bedeutete es Böses.“

Karpati meinte, daß „1984“ nicht nur deshalb gelesen worden sei, weil es getreulich die eigene Wirklichkeit widerspiegelte, sondern gleichermaßen, weil es ein Buch des Westens war.

Karpati ist einer von den vielen Flüchtlingen, die erklärt haben, weshalb es den Kommunisten nicht gelang, die ungarischen Intellektuellen auf ihre Seite zu bringen. Manche Intellektuelle waren zögernd und gradweise auf die Linie der Partei eingeschwenkt, verloren aber fast augenblicklich alle Illusionen, als am 23. Oktober 1956 die Oktoberrevolution in Ungarn ausbrach und stellten sich auf die Seite der Freiheitskämpfer.

Die Verbannung aller internationaler Literatur, die weder in die kommunistische Weltanschauung noch in die Ziele der Partei paßte, war eine der Ursachen für den inneren Widerstand der ungarischen Intellektuellen gegen die Partei.

Während die literarischen Erzeugnisse vieler unbekannter, aber auch so berühmter sowjetischer Schriftsteller wie Ehrenburg, Scholochow und Wladimir Bek das Land überschwemmten, gab es von den großen ungarischen Dichtern kaum je Bücher zu kaufen.

Selbst einige Gedichte des ungarischen Freiheitsdichters Petöfi verschwanden, als die Kommunisten zur Macht gelangten. Bis zu Stalins Tod waren sogar Molnars Stücke verbannt, da sie „zu kosmopolitisch“ waren. Imre Madachs berühmtes Schauspiel „Tragödie der Menschen“ war verboten, weil die letzten Szenen genauso antidiktatorisch ausgedeutet werden konnten wie „1984“. 

Viele ungarische Schriftsteller fühlten die Faust der AVO im Nacken, wenn sie sich nicht einordnen wollten oder wenn ihre politische Blickrichtung oder auch ihre früheren Werke gegen das kommunistische Regime gerichtet waren. Unter diesen Schriftstellern befanden sich zum Beispiel Gyorgy Faludy, der neben seinen eigenen Werken zugleich dadurch berühmt war, daß er Francois Villon aus dem Französischen übersetzt hatte, und eine Frau, die unter dem Pseudonym Claire Kenneth populäre romantische Romane geschrieben hatte.

Faludy kam ins Zuchthaus, und Claire Kenneth verbrachte zwei Jahre in einem Zwangsarbeitslager in der Nähe von Tiszasuuly. 

Genau wie andere Bewohner der Stadt Budapest mußten auch die Intellektuellen das obligatorische Lese- und Informationsmaterial aus so riesigen Verlagshäusern holen wie „Horizont“ in der Vaci-Straße oder „Szikra“ auf dem Lenin-Boulevard.

Diese Verlage, die zugleich Großbuchhandlung und Druckerei waren, gaben sowjetische Romane und wissenschaftliche Fachbücher heraus, beschäftigten sich in ihren Programmen jedoch hauptsächlich mit politischen Themen und Männern wie Stalin und anderen kommunistischen Figuren. Manchmal waren die Erzeugnisse auch in Ungarn geschrieben, brachten aber stets propagandistische Themen über den Kommunismus zum Tragen. Während es immer nur gelang, einige Exemplare westlicher Bücher nach Ungarn hineinzuschmuggeln, hatten die Kommunisten die gesamte Kontrolle über die anderen Kulturmedien wie Kunst, Theater und Film in den Händen. 

Ein anderer Flüchtling, der junge Theaterdichter Imre Jakob, berichtete, daß verschiedene Budapester Theater wie zum Beispiel das Madachtheater und das alte Nationaltheater auf dem Luisa-Blaha-Platz meist prosowjetische und antiwestliche Stücke von sowjetischen Autoren wie Sofronow, den Brüdern Turn, Trenew oder dem klassischen Schriftsteller Gorki auf dem Spielplan hätten. Und die Budapester Oper glänzte mit der Opernversion des Romans „Junge Garde“, in dem Fadejew den sowjetischen „Hitlerjungen Quex“, Oleg Koshevoi, verherrlicht.

Imre Jakob kritisierte, daß die Stücke „meist schlecht ausgestattet, schlecht aufgeführt und quälend langweilig“ seien. Er berichtete außerdem, daß die Aufführungen vielfach eine aggressive, antiwestliche Tendenz hatten. Als Beispiel hierfür nannte er „Die Russische Frage“ des sowjetischen Stalinpreisträgers Simonow. Das Spiel schildert die Drangsale eines prosowjetischen New Yorker Journalisten, Harry Smith, der von seinen antikommunistischen Arbeitgebern in Versuchung geführt wird. 

In den ungarischen Kinos laufen vor einem spärlichen Publikum die Propagandafilme, obschon viele Freikarten für Schulen und Fabriken verfügbar sind. Viele dieser Filme wurden in Ungarn hergestellt, aber viele andere aus der Sowjetunion importiert. Endlos lang liefen solche favorisierten Streifen wie „Kreml 1919“ und „Der Fall von Berlin“. Amerikanische Filme waren verboten (...)

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 23.01.1957 unter dem Titel "George Orwells 1984 – die Geschichte unseres eigenen Lebens – Ungarische Schriftsteller, Künstler, Journalisten sprechen über den Stand der Kultur in ihrem Lande". Um den vollständigen Artikel zu lesen, klicken Sie bitte hier.

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