Neuer Trend "Vorstadt"

1960 steht Amerika vor einem neuartigen Problem: die "Suburbs", die wegen der wachsenden Automobilindustrie rege Zuwanderung erfahren. Lesen Sie in diesem Artikel von John Kerigan über den Schutz von Freilandgebieten und die damit zusammenhängende Notwendigkeit von achtsamer Stadtplanung durch Gemeinden.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Illustration von Adeline Krems

Ein Artikel von John Kerigan

Washington – Ist Amerika wirklich fähig, sich dem Zeitalter des Automobils anzupassen? Nach einem halben Jahrhundert der Abhängigkeit vom Automobil als Verkehrsmittel mag diese Frage recht ungewöhnlich klingen. Doch mit jeder neu veröffentlichten Zahl über das Anwachsen der Vorstädte erhält sie frische Aktualität, besonders jetzt, da ein Resultat nach dem anderen von den Rechenmaschinen der Volkszählung 1960 ausgespien wird.

Überall in den Vereinigten Staaten versuchen die Städte sich auf Grund dieser Statistiken über die eigene Lage klarzuwerden. Was sie feststellen, ist eine Abwanderung ihrer Einwohner in die Außenbezirke, so wie es in der Schlagzeile einer Bostoner Zeitung zum Ausdruck kommt: „Boston schrumpft – die Vororte wachsen“. Allerdings ist dieses Ins-Kraut-Schießen der „Suburbs“ - die neusten Angaben sprechen von 47 Prozent während der vergangenen zehn Jahre – für niemand eine Überraschung, der sich in der Hauptverkehrszeit einmal seinen Weg nach Hause erkämpfen mußte.

Neuen Impuls erhielt der Strom in die Vorstädte durch das rasche Anwachsen der Bevölkerung und die wirtschaftliche Prosperität nach dem zweiten Weltkrieg, die fast jedem Arbeitenden den Besitz eines eigenen Wagens ermöglichte. Dieser Strom trat über die Ufer, und es bildeten sich Trauben von Wohnsiedlungen mit Einkaufszentren, stellenweise sogar Industrieanlagen, bis schließlich einzelne Städte durch eine Kette von Siedlungen miteinander verbunden waren. Das augenfälligste Beispiel liefern die Neuenglandstaaten im Nordosten der USA, wo sich eine riesige „Bandstadt“ mit fast 30 Millionen Einwohnern von Boston aus südwärts 960 Kilometer weit bis nach Washington hin erstreckt. Ähnlich sind die Verhältnisse längs der Großen Seen, am Golf von Mexiko und an der Pazifikküste zwischen San Francisco und San Diego in Kalifornien.

Experten, Soziologen, Wirtschaftsfachleute und Staatswissenschaftler stehen dieser Situation mit einiger Besorgnis gegenüber. Wenn nicht weitreichende Maßnahmen zur Erhaltung von Freilandgebieten ergriffen werden, könnte Chaos am Ende dieser Entwicklung stehen – ein endloser Wirrwarr von Asphaltstraßen, Telegraphenmasten und Fernsehantennen, nirgendwo unterbrochen von Parks oder Wäldern. Die Bedeutung einer durchdachten Planung ist glücklicherweise immer mehr Gemeinden klargeworden. Sie verlangt selbstverständlich mehr als nur das Ersinnen neuer Projekte, die das Geld des Steuerzahlers verbrauchen.

In verstärktem Maße werden professionelle Städteplaner mit der Lösung der verschiedensten Probleme – von der Altstadtsanierung bis zur Ausbreitung der Vorortgebiete – beauftragt. Die Zahl der Angestellten in den Stadtbauämtern hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt, über 200 private Beratungsfirmen mit mit Planungsarbeiten für kleinere Städte, die sich für diesen Zweck keinen eigenen Angestelltenstab leisten können, ausgelastet. Der starken Nachfrage nach Fachleuten versuchen 25 Universitäten gerecht zu werden, die Gelegenheit zu einem Spezialstudium bieten, rund 250 Studenten pro Jahr legen an ihnen ein Examen der Fachrichtung Städteplanung ab.

Großstädte wie Philadelphia arbeiten an Großprojekten, die einen Zeitraum von 25 Jahren umfassen und zumeist aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Doch selbst Pendlersiedlungen haben umfangreiche Pläne für die Zukunft aufgestellt, und 1140 kleinere Städte, deren Einwohnerzahl meist unter 25 000 liegt, entwickeln z. Zt. Langfristige Pläne im Rahmen eines Programmes bei dem die amerikanische Bundesregierung die Hälfte der Planungskosten trägt.

Der Entwurf eines Generalplanes für das Wachstum einer Gemeinde ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Viele Faktoren müssen berücksichtigt werden um die „geordnete Entwicklung ausgewogener Gemeinden“ sicherzustellen. Hervorragende Beispiele hierfür bietet der Bundesstaat Wisconsin, wo die wirtschaftlichen Hilfsquellen und künftigen Entwicklungsmöglichkeiten der Gemeinden Basis und Bezugspunkt jeder Planung bilden. In einer Gemeinde z.B. wurde als ideale Bevölkerungszahl 60 000 festgesetzt bei einer erwünschten Zuwachsrate von jährlich 8 Prozent. Für das industrielle und kommerzielle Wachstum der Gemeinde sowie die Ausdehnung ihrer Wohnbezirke wurden in gleicher Weise Idealziele aufgestellt, auf die der Plan als Ganzes eigens ausgerichtet ist. Die genaue Einhaltung der Zwischenstufen, die Erweiterung des Wasserleitungs- und Kanalisationsnetzes zum geeigneten Zeitpunkt, der Ausbau der staatlichen Versorgungsbetriebe und die Gliederung der Siedlungszellen spielen dabei eine bedeutende Rolle.

Integraler Bestandteil jeder Städteplanung ist das System der Autobahnen und Verkehrsstraßen, die die Vorortgemeinden mit ihrer Mutterstadt verbinden. Nach den Vorschlägen der Städteplaner sollte hier auch der Ansatzpunkt zur Neuformung der Städte der Zukunft liegen. In der Beseitigung des erstickenden Verkehrs der Innenstädte, die in ein Fußgängerparadies verwandelt werden sollten, von dem Schnellstraßen strahlenförmig nach den Außenbezirken führen, sehen die Städteplaner eine der wichtigsten Maßnahmen, die dazu beitragen, die Flucht in die Vororte einzudämmen und der Innenstadt ihre frühere Bedeutung wiederzugeben.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 22.07.1960 unter dem Titel "Flucht in die Vororte – Bevölkerungsprobleme der amerikanischen Städte". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „Tatsachen und Meinungen“ oder „Von Mary Pickford zu Marilyn Monroe“, klicken Sie bitte hier.

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