Martha Grahams "Klytämnestra"

"Klytämnestra" lautet der Titel der neuen Tanzchoreografie von Martha Graham, die 1958 New York begeistert. Mit einer Originalpartitur des ägyptischen Komponisten Halim El-Dabh und inspiriert von der griechischen Tragödie "Orestie", wird man als Zuschauer zu Beginn in die Unterwelt entführt, wo die rachsüchtige Königin "Klytämnestra" einen Disput mit dem Gott Hades austrägt.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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Ein Artikel von Norman Smith

Nach dreijähriger Abwesenheit, nach Gasttourneen und Erfolgen in den Ländern Europas und dem Orient, tanzte Martha Graham nun erstmals wieder in New York. Und seit ihrem letzten Auftreten in der Hudsonmetropole haben die New Yorker keine so glückliche Verschmelzung kraftvoller Individualität und außerordentlicher Begabung mehr erlebt. Die emotionelle Ausstrahlung, die von allen Martha-Graham-Schöpfungen ausgeht, ist bei keinem ihrer Werke so stark wie bei ihrem neuen Tanzzyklus, der vieraktigen Tragödie „Klytämnestra“.
„Klytämnestra“, die fluchwürdige Gestalt aus der griechischen Mythologie, die Gattin Agamemnons, die ihren Mann betrog und töten ließ, dann selbst durch die Hand ihres Sohnes sterben muß, bot Martha Graham alle Möglichkeiten, an die psychologischen Wurzeln menschlicher Grausamkeit vorzustoßen. Falsch wäre es jedoch anzunehmen, „Klytämnestra“ sei lediglich eine choreographische Version des griechischen Epos.
Martha Graham, die auch hier wieder die Verstrickung mit dem Düsteren betont, das Abnorme akzentuiert und die Verwirrungen der Seele darstellt, stellt vielmehr die Reflexionen des leidenschaftlichen Kampfes dar, der sich im Gehirn der grausamen Königin von Mykene abspielt.

In gemessenen schweren, fast rituellen Gebärden entrollt sie die makabre Handlung, untermalt von der monotonen Musik des ägyptischen Komponisten Halim El-Dabh. Zwei Sprecher, im Proszenium postiert, geben in leiernde, Parlando, das sich gelegentlich bis zum Falsetto steigert, Erläuterungen. Überraschend und sonderbar berührt die moderne Abendkleidung der Tänzer; dieses Herüberholen der Antike in die Moderne sowie die völlig unpersönliche Darstellung machen Alter und Inhalt und Zweck der antiken Tragödie noch sinnfälliger.
Das Ballett „Klytämnestra“ ist eine emotionelle Enthüllung von starker Aussagekraft, eine schwierige Aufgabe für die Tänzer und keine leichtverdauliche Kost für die Zuschauer. Es mag nicht immer ganz verstanden werden, jedoch der rezeptive Zuschauer wird selbst dann noch von der hohen Dramatik und dem Zauber, der von Martha Grahams Tanzdichtung ausgeht, hingerissen sein.
Nicht immer hat Martha Graham das Vokabular des tänzerischen Ausdrucks für die subtilsten Empfindungen und Regungen der Seele und des Gemütes so vollendet beherrscht wie heute. Als sie 1923 nach vier Jahren tänzerischer Arbeit bei der berühmten Denishawn-Truppe mit der Tradition des klassischen Balletts brach, fand sie für ihre Ideen keine Anhänger. Sie aber war davon überzeugt, daß es ihr schließlich gelingen würde, einen eigenen Tanzstil zu entwickeln.
Sie wurde zunächst Lehrerin an der Eastman School of Theatre in Rochester (New York). Damals bereits begann sie mit ihren Experimenten im Gruppentanz. Sie trieb ein umfassendes Bewegungsstudium, suchte in Amerika und im Ausland nach Anregungen, die sich zu brauchbaren Übungsregeln für ihre tänzerische Gestaltung verarbeiten ließen. Erst allmählich fand sie ihren ganz persönlichen Stil, der später für die Entwicklung des amerikanischen Tanzstils mitbestimmend sein sollte. Ihr Tanz ist die Darstellung des Lebens. Sie gibt sich im Gegensatz zum klassischen Ballett auch keine Mühe, die körperliche Anstrengung, die der Tanz erfordert, zu verbergen. Sie zieht diese Anstrengung in die Tanzgebärde ein. Sie verwendet vielfach die Technik der sogenannten „percussive movements“, angulare oder auch kreisende Bewegungen, die den ganzen Körper erfassen und, wie es scheint, im Raum noch weiterschwingen.

Seit dem Jahre 1926 hat Martha Graham weit über hundert Choreographien gemacht, deren Skala Solotänze, Gruppentänze und moderne Ballettsuiten über Ensembletänze bis zum großen modernen Ballett umfaßt. Mit zu den bekanntesten gehört „Appalachian Spring“ nach der Musik von Aaron Copland. Die 1940 uraufgeführte Ballettsuite „Letters to the World“, die auf der tragischen Gestalt der Dichterin Emily Dickinson und ihrer unglücklichen Liebe basiert, ist insofern bemerkenswert, als Martha Graham hier erstmals auch die Sprache in die Choreographie einführt. 
„Klytämnestra“ gilt als ihre bisher ehrgeizigste Schöpfung, sie ist aber nicht das erste Thema aus der griechischen Mythologie, das Martha Graham tänzerisch gestaltet hat. Ihr gehen voraus die Ballette: „Medea“, eine Wahnsinnige, die an den eigenen Leidenschaft verbrennt; „Error in the Maze“, die Darstellung der Minotaurussage, vom stierköpfigen Menschenfresser und Labyrinthbauer, der von Theseus erschlagen wurde und „Night Journey“, die Tragödie von Ödipus und Jokaste.
Wer von den New Yorkern Martha Graham und ihre Truppe in New York erlebt hat, hat begriffen, daß diese nicht mehr ganz junge Künstlerin auf dem besten Weg ist, ihrem Ruhm als Choreographin und Tänzerin ein neues Kapitel hinzuzufügen.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 09.05.1958 unter dem Titel "Klytämnestra trägt moderne Abendkleidung – Martha Grahams ehrgeizigster Tanzzyklus "Klytämnestra begeisterte New York". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „Plazenta-Untersuchungen zum Schutz des Neugeborenen“ oder „Blickrichtung Kalifornien“, klicken Sie bitte hier.

Martha Grahams "Klytämnestra"