Kunstkritik: moderne Kunst unter der Lupe

Lincoln Kirstein stellt die moderne Malerei auf den Prüfstand – ist sie nichts weiter als eine Spielerei in den Händen von Innendekorateuren und Kunstspekulanten?

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Ein Artikel von Lincoln Kirstein

Lincoln Kirstein ist einer der Kuratoren des Museum of Modern Art in New York und gilt als Verteidiger der modernen Malerei. Seine Stimme kann daher von den kritiklosen Bewundern alles „Modernen“ nicht überhört werden, um so weniger, als sich seine Kritik nicht gegen die moderne Malerei als solche, sondern vielmehr gegen den Mangel an Bildung, Verantwortungsbewußtsein und handwerklichen Können bei vielen ihrer Vertreter richtet. Wir geben seine Ausführungen nach „Harper's Magazine“, stark gekürzt, wieder. Die moderne Malerei, die sich seit vielen Jahren nur gegen eine einzige Angriffsfront, die der „Philister“, zu verteidigen hatte, sieht sich plötzlich einem neuen Gegner gegenüber.
Diese neue Gegnerschaft geht jedoch von ganz anderer Seite aus, obwohl sie auf den ersten Blick vom Philistertum nicht wesentlich verschieden zu sein scheint. Auch sie schließt sich der vorbehaltlosen Anerkennung jeder abstrakten Malerei nicht an – die vielfach nichts anderes ist, als eine Art von abstrakten Akademismus. Die neuen Angreifer stellen sich nicht prinzipiell gegen die freie Welten der Phantasie, des Experimentierens mit neuen Techniken und Mitteln, noch gegen das, was man allgemein als „Verzerrung“ bezeichnet. Was sie ablehnen, ist Improvisation als Methode und Deformation als Formel, ist Malerei als Spielerei in den Händen von Innendekorateuren und Kunstspekulanten. Die neue Opposition beklagt den Mangel an elementarer Allgemeinausbildung in Geschichte und Naturwissenschaft bei den meisten jetzigen Malern, das Fehlen von soliden technischen Verfahren und entsprechender handwerklicher Tüchtigkeit.
Das Fehlen eines starken religiösen Glaubens und die Tatsache, daß wir in unruhigen Zeiten leben, können nicht einfach als Ursache dafür bezeichnet werden, daß es heute so schwer ist, gute Bilder zu malen. Die Künstler leben heutzutage in keiner größeren geistigen oder leiblichen Gefahr als Breughol unter der Herrschaft Herzog Albas, Greco zur Zeit der Inquisition oder Courbet, dem seine Rolle in der Pariser Commune Unheil gebracht hat. Was der Malerei heute mangelt, ist das, was jeder schlechten Malerei immer abgeht: angemessene geistige Fähigkeit und handwerkliches Können.

Nicht gegen vereinzelt dastehende Kunstwerke, wie Piccasos „Les Demoiselles d'Avignon“ und „Guernica“ oder Dalis „Erinnerung“ die unvergängliche Werke darstellen, wendet sich die Opposition, sondern gegen jene Serienmalereien, die um einer neuen Kollektivausstellung willen innerhalb von ein paar Monaten zusammengekleckst werden. Man ist besessen von der Sucht, um jeden Preis Eigentümlichkeiten zur Schau zu tragen. Dabei ist diese Originalität nur selten echt und vermag ebenso selten auf die Dauer zu interessieren. Die zeitgenössische abstrakte Malerei ist in erster Linie dekorativ. Die meisten abstrakten Gemälde sind dem Umfang nach zu groß für die Gedanken, die sie enthalten, und viel zu groß für die kleinen Wohnräume, in denen sie aller Voraussicht nach landen werden. Der Maler ist zu einem berufsmäßigen Amateur, zu einem verantwortungslosen Dilettanten von Charme, Frische und Unbeschwertheit geworden, der nicht aufhören darf, sein Publikum zu unterhalten. Mit zunehmender Übung entwickelt er sich zu einem Varietékünstler mit einer einzigen Schaunummer, und das Publikum nimmt übel, wenn er einmal von seiner Routine abweicht.
Einige von diesen Serienmalern wie Matisse, Dufy, Derain, Vlaminck, Leger und Schlemmer haben zwar ursprünglich einen historischen Beitrag zu den Kunstrichtungen ihrer Zeit geleistet, aber nur wenige Meisterwerke hinterlassen, die ihren Ruhm verewigen werden.
Viele junge Künstler haben kein Interesse für die Geschichte der Kunst vor Anbruch der Moderne, sondern sind der Ansicht, daß „die letzten fünfzig Jahre lehrreicher und nachahmenswerter sind als die vorhergehenden fünfhundert“. Das Jahr 1950, die Mitte des Jahrhunderts, legt eine Überprüfung und Umwertung der gesamten künstlerischen Produktion der vergangenen hundert Jahre nahe. Amerika hatte kürzlich Gelegenheit, einen der großen modernen Meister, Matisse, auf einer besonders reichhaltigen Kollektivausstellung im Philadelphia-Museum zu sehen. Das Bild, das man von ihm gewinnt, ist das eines Dekorationsmalers französischen Geschmacks, des Bouchers seiner Zeit, der von seinen künstlerischen Quellen, den Miniaturen und Keramiken des Islam, Strich um Strich übertroffen wird. Muß nicht jeder der führenden Künstler unserer Tage vor den warnenden Beispielen zusammengestürzten Ruhmes erschauern?Wäre es nicht nützlicher, angenehmer und unterhaltender, wenn die Maler wieder einmal Bilder malten, die nur so groß sind wie die Idee, von der sie inspiriert wurden, wenn sie sich an einen künstlerischen Ausdruck in Farben erst heranwagen, nachdem sie gelernt haben, unter allen Arten von Techniken die brauchbarste zu wählen, sodaß ihre Entscheidung weder zufällig noch naiv, sondern auf dem sorgfältigen Abwägen aller Möglichkeit basiert ist? Wäre es nicht besser, wenn der Künstler an die Ausführung seines Bildes voller Ehrfurcht vor der Zeit heranginge, bewußt seiner Verantwortung gegenüber der Vergangenheit und in der bescheidenen Hoffnung, daß sein Werk auch noch in einer Zukunft, die keine Nachsicht kennt, in Ehren bestehen wird?

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Geistiges Leben“ vom 24.01.1950 unter dem Titel "Moderne Kunst kritisch betrachtet". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: "Filmprüfer werden geprüft", oder "Vierhändiges Klavierspiel, ein versunkener Schatz", klicken Sie bitte hier. 

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