Kuhgeflüster

Ein erfahrener Kuh-Psychologe berichtet: "Es gibt keine schlechten Kühe. Nur schlechte Kuh-Halter." Ein Amerikadienst-Artikel über "die Kuh mit Charakter" und warum melken eine Wissenschaft für sich ist.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Illustration von Joanna Pawlik 

Peterborough, New Hampshire – Als erfahrener Psychologe für Milchkühe muß ich sagen, daß es schlechte Kühe eigentlich nicht gibt. Es gibt nur schlechte Kuh-Halter. Allerdings muß zugegeben werden, daß nicht alle Kühe gleich sind. Manche sind gutmütige, leicht zu behandelnde Naturen, bei anderen wieder bedarf es unendlicher Geduld und Mühe, sie zu solchen zu machen. Meist lohnt sich aber diese Mühe, denn in der Regel ist gerade die „Sorgenkuh“ eine rentable Milchlieferantin.
Milchkühe sind ausgesprochene Gewohnheitstiere. Daneben aber besitzen sie ausgeprägten Instinkt und die Gabe großer Gelehrigkeit. Wenn eine Kuh längere Zeit hindurch in bestimmten Abständen gemolken wird, so gewöhnt sie sich so sehr daran, daß sie zu diesen Zeiten auch die meiste Milch gibt.
Ebenso sollte sich jeder Kuhhalter der Tatsache bewußt sein, daß sein eigenes Verhalten das der Kuh stark beeinflußt. Eine Milchkuh spürt, wenn der Melker Angst vor ihr hat. Wehe ihm, wenn er sich ihr in diesem Zustand nähert. Bevor er noch mit seiner Arbeit beginnen kann, hat er den Fußhieb ans Schienbein schon weg. Nichts wäre dann aber unangebrachter, als die „Missetäterin“ mit wilden Schimpfworten und Schlägen bestrafen zu wollen. Im Gegenteil, streichle sie und sei nett zu ihr! Sie ist ein sensibles Wesen, daß nicht so abgestumpft ist wie ihre Schwester, die Fleischkuh. Sie ist sozusagen eine Kuh mit Charakter.
Ich könnte aus meiner eigenen Praxis eine ganze Reihe von Kühen nennen, die wegen ihrer ausgeprägten Sensibilität von ihren ursprünglichen Haltern als „hoffnungslose Fälle“ verkauft wurden und die dann bei richtiger Behandlung die besten Milchkühe waren, die ich jemals hatte und die als Milchlieferanten wahre Rekorde aufstellten. Noch bessere Beweise meiner Theorie aber gab Carl Gockerell, der 27 Jahre auf der berühmten amerikanischen Carnation-Milchfarm als Chef-Schweizer arbeitete und während dieser Zeit mit seinen Kühen mehr Rekorde aufstellte als irgendein Milchfarmer vor ihm. Er lebte mit seinen Kühen, studierte ihre Eigenheiten und Bedürfnisse und ließ nichts unversucht, um durch besonders gute Behandlung und Fütterung nicht nur ihre Leistungen zu steigern, sondern auch ihr Zutrauen zu gewinnen. Denn er wußte, daß eine Milchkuh das willigste Tier ist, sobald man ihr Vertrauen gewonnen hat.
Kühe verbinden Töne und Geräusche stets mit gewissen Assoziationen. Sie erkennen den Klang des Melkeimers oder Melkapparates ebenso wie das Geräusch des Futterbringens und merken sich sehr schnell ihren Namen, der natürlich am besten recht kurz und bei den einzelnen Stallbewohnern möglichst unterschiedlich gewählt werden soll.
Sobald man einmal damit begonnen hat, die Kühe in einer bestimmten Reihenfolge zu melken – und dies sollte stets getan werden – darf diese Reihenfolge nie geändert werden. Eine Kuh weiß nach kurzer Zeit ganz genau, nach welcher ihrer Artgenossinnen die Reihe an sie kommt, und es kann leicht geschehen, daß sie, unbedachterweise, übergangen nachher keine Milch gibt. Zwar hat sie selbst keine Gewalt über ihre Milch, doch können bei ihr ausgelöste Empfindungen des Unbehagens oder gegen die Gewohnheit verstoßende Ereignisse während der Melkzeit bewirken, daß Hormone der Nebennierenrinde in den Blutkreislauf eintreten und gegen für die Milchabgabe notwendigen Oxytocin-Hormone in Aktion treten.
Der ausgeprägt mütterliche Instinkt einer Milchkuh wird sie veranlassen, dem Farmer, der ihr Vertrauen hat und der sie zu behandeln weiß, ihre Milch genau so gerne zu geben wie etwa ihrem Kalb. Wer diesem primären Naturgesetz folgt, hat damit den Schlüssel zum Erfolg einer Milchfarm gefunden.

Aus „Your Farm“, einer vielgelesenen landwirtschaftlichen Monatszeitschrift der Vereinigten Staaten.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Landwirtschaft“ im Oktober 1951 unter dem Titel "Psychologie im Kuhstall – der Erfolg einer Milchfarm liegt an der weisen und verständnisvollen Behandlung der Kühe". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie „Kohlköpfe im Dornröschenschlaf“, oder „Eine Rose: 50 000 Dollar“, klicken Sie bitte hier.

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