Highway-Sklerose: Zwischen Stau und Verkehrschaos

Der Boom der Automobilindustrie und seine negativen Konsequenzen: immer stärker verstopfende Straßenkreuzungen und eine beängstigende, wachsende Zahl an Verkehrstoten. Die Straßenbauer verzweifeln.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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New York – Mit Personenwagen, schweren Lastenzügen und Autobussen vollgepfropfte Straßen, dazwischen über die Kreuzungen dahineilende Menschenknäuel, eingehüllt in feine bläulich-weiße Benzinwölkchen und das ganze akustisch untermalt von den schrillen Trillerpfeifen der Verkehrspolizisten, dem Kreischen der Autoräder und dem Aufheulen gejagter Motore – das ist das Bild, das sich heute dem Besucher amerikanischer Großstädte, sei es New York, Cleveland oder Los Angeles, zur Zeit der „rush-hour“ bietet. Angesichts dieses infernalisch anmutenden Bildes kann man die Kümmernisse der amerikanischen Straßenbauer, nämlich beschleunigt breitere und bessere Straßen schaffen zu müssen, und die Sorgen der Polizei, der steil ansteigenden Todeskurve Einhalt zu gebieten, vollkommen verstehen. Auch die Argumente der Automobilindustrie, die gegenwärtige Straßenverstopfung könne den Absatz stark hemmen, wirken in diesem Zusammenhang durchaus überzeugend.
Bei gegenwärtig 52 Millionen zugelassener Kraftwagen – das sind 68 % mehr als 1945! Sind tatsächlich nicht nur die Straßen der Städte, sondern auch die großen Autobahnen so sehr mit Autos verstopft bzw. „überfahren“, dass die Zahl der Verkehrsunfälle in den letzten Jahren astronomische Ziffern erreichten. Im Herbst letzten Jahres überschritt die Gesamttodesziffer die Ein-Millionen-Grenze; die Unfallbilanz 1951 lautete: 37 500 Tote; und 1952 wird die Verkehrstodesziffer sogar die Zahl aller in sämtlichen amerikanischen Kriegen gefallenen Soldaten überschreiten!

In knapp 50 Jahren von vier zu 52 Millionen Autos auf amerikanischen Straßen

Auch aus den Bilanzen der amerikanischen Unfallversicherungen mag die zunehmende Verkehrsunsicherheit in den USA abgelesen werden, denn obgleich die Versicherungen im letzten Jahr die Prämien um rund 30% erhöhten, schlossen alle Gesellschaften 1951 mit noch nie dagewesenen Verlusten ab.
Noch einige andere, dieses Bild abrundende Angaben: Gab es 1895 erst vier registrierte Automobile in den USA, so waren es um die Jahrhundertwende schon 8 000 und 30 Jahre später, also 1930, bereits 26,5 Millionen. Obgleich durch den II. Weltkrieg diese Entwicklung stark gehemmt wurde, konnte sich die Zahl der Automobile 1945 auf 31 Millionen erhöhen. Seit dieser Zeit aber sind 21,2 Millionen neue Fahrzeuge hinzugekommen. Der Benzinverbrauch erhöhte sich in dieser Zeit um 50%, die an Ersatzreifen verarbeitete Gummimenge um 56%. Der Produktionswert für Batterien, Reifen und Zubehörteile beträgt gegenwärtig im Jahresdurchschnitt 2.250 Milliarden Dollar, und der Umsatz an den Tankstellen belief sich 1951 auf 1,5 Milliarden Dollar.

Verkehrswert des Autos geht zurück.

Wenn die Entwicklung der letzten Jahre sich fortsetzt – und alle Anzeichen sprechen dafür – so dürfte der Tag nicht mehr fern sein, wo das Kraftfahrzeug seinen Verkehrswert zu verlieren droht. Hier ein Beispiel: Um von den „Hills“ in die Innenstadt von Pittsburg zu gelangen, benötigte man vor dem Krieg knapp 10 Autominuten. Heute braucht man für die gleiche Strecke mehr als eine halbe Stunde! Allein auf den Ausfallstraßen von St. Louis bewegen sich während der Hauptverkehrszeit über 30 000 Autos!
Man könnte noch viele Beispiele dieser Art anführen, um zu zeigen, vor welchen Verkehrsproblemen heute bereits die Straßenbauer stehen. Ihr Stoßseufzer lautet im ganzen Land: „Der Verkehr wächst schneller als wir Straßen bauen können“. Dabei sind die großen 2 -, ja oft 6-bahnigen Autostraßen der USA wegen ihrer vorbildlichen Anlage berühmt. Aber wenn selbst eine Stadt wie Los Angeles, die in den letzten Jahren 160 Millionen Dollar zum Ausbau des Straßennetzes aufwendete, in diesen Notschrei mit einfällt, dann mag man daran erkennen, wie gefährlich die „Highway-Sklerose“ bereits geworden ist.

Expreßautobahnen – mehr Einbahnstraßen – höhere Geldstrafen

Es fehlt in den USA natürlich auch nicht an Vorschlägen, um wenigstens die größten Übelstände abstellen zu können. Fast jede Stadt und jeder Staat hat seine besonderen Pläne ausgearbeitet. Und die Grundlösungen gleichen sich wie ein Ei dem anderen; nämlich: Ausbau der Autobahnen, mehr Einbahnstraßen, größere, z.T. unterirdische Parkplätze, höhere Strafen für Verkehrssünder. Cleveland plant u.a. die Errichtung einer mit 8 Fahrbahnen ausgestatteten Brücke über den Cuyahoga-Fluß sowie den Bau einer 2 Meilen langen Expreßbahn, um so die Engpässe der Innenstadt zu beseitigen. Insgesamt 33 Millionen Dollar sind für dieses Vorhaben, mit denen in den nächsten Monaten begonnen wird, vorgesehen. Auch Portland – um noch eine weitere Stadt anzuführen – will die unhaltbaren Zustände seiner City durch den Bau einer großen Straßen-Brücke „endgültig“ beheben.
Um die wichtigsten Verbesserungen am amerikanischen Straßennetz vornehmen zu können, werden von der Regierung 56 Millionen Dollar benötigt. Aber dies sind – wie gesagt – nur die dringendsten und den Verkehr nur in seiner gegenwärtigen Stärke berücksichtigenden Bauvorhaben. Wie der Verkehr allerdings in 5, 10 oder gar 20 Jahren gemeistert werden kann, das ist zur Zeit noch eine Frage, die keiner der Fachleute genau zu beantworten weiß.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Wirtschaft und Arbeit“ vom 22.02.1952 unter dem Titel "Highway-Sklerose – die Verkehrskrankheit der USA – Straßenbauer sind machtlos – Mehr Verkehrstote als in sämtlichen Kriegen Gefallene". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „Kanada – die Rohstoffkammer des Westens“, oder „Xm – der „Scheibenwischer“ für Brillen“, klicken sie bitte hier.

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