Harriet Monroes "Poetry"

1912 von der Dichterin Harriet Monroe gegründet, hat sich die Zeitschrift "Poetry" dank des Geschäftssinns ihrer Gründerin international in der Literaturwelt einen Namen gemacht. Ein kurzer Artikel über ein Magazin, das bis heute (2020) trotz andauernder Verluste und der Zeitschriftenkrise erscheint und das wahrscheinlich dank berühmter Dichterinnen wie Carl Sandburg, Edgar Lee und Sherwood Anderson, die darin publizierten.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Ein Artikel von Norman Smith

Chicago – Eine Handvoll Zeitschriften aus dem Arsenal der 7000, die es in den USA gibt, fällt in die Kategorie der „Magazinchen.“ Sie sind klein in Format und Auflage, entstehen aus Liebe, sind einem Sonderanliegen eng verbunden. Die knapp begrenzte Auflage läßt keine Hoffnung Gewinn durch bezahlte Anzeigen keimen. So haben die „Magazinchen“ gewöhnlich ein kurzes Leben, das nach wenigen Ausgaben oder höchstens einigen Jahren erlischt.
Mit großem Vergnügen nehmen wir deshalb Kenntnis von einer glänzenden Ausnahme, dem „Magazinchen“ „Poetry“. Gegründet 1912, erscheint „Poetry“ seither Monat für Monat, obwohl es ständig mit Verlust arbeitet.
Das Verdienst für dieses erstaunliche Kunststück kommt in weitem Maße Harriet Monroe zu, die „Poesie“ gegründet und bis zu ihrem Tod 1936 redigiert hat. Selbst Dichterin, hatte sie sich ganz der Kunst der Verse verschrieben. Dazu verfügte sie über eine bemerkenswerte Überzeugungskraft. Natürlich wußte sie, daß ihre Zeitschrift sich nicht selbst tragen konnte. Um nun eine solche Monatsschrift finanzieren zu können, die zeitgenössische Dichter durch die Publikation ihrer Werke ermutigen sollte, wandte sie sich an Chicagoer Geschäftsleute.
Die erste Ausgabe von „Poetry“ erschien, nachdem hundert Chicagoer ihre Unterstützung zugesagt hatten. Jeder von ihnen verpflichtete sich, fünf Jahre lang jährlich 50 Dollar zuzuschießen. Irgendwie ist es „Poetry“ seither gelungen, seine Erscheinungszeiten einzuhalten. Und mit den Jahren ist es Liebhabern der Dichtung in vielen Ländern zu einem Begriff geworden.
Henry Rago, der augenblickliche Chefredakteur, sieht in „Poetry“ „das, was einer Zeitschrift der Dichtergilde am nächsten kommt“. Eine Art amtliches Fachblatt, dient es als Nachrichtenmittel für die englischsprechenden Dichter. 
„Poetry“ müßte eigentlich in dem geschäftigen Treiben der prosaischen Gewerbe, die in Chicago ihr Zentrum sehen, deplaciert erscheinen. Aber seine kleinen Redaktionsräume bilden einen Mittelpunkt, in dem sich die Dichter und Dichterlinge des Mittelwestens treffen.
Auf den Seiten von „Poetry“ erschienen zum erstenmal Meisterwerke wie „Chicago“ von Carl Sandburg und „Spoon River Anthology" von Edgar Lee Masters.
Henry Rago hat den Eifer des Gründers und ersten Redakteurs des Magazins. Mit sieben Jahren schrieb er seine ersten Gedichte, mit zwölf stellte ihn sein Vater in der „Poetry“-Redaktion Harriet Monroe vor. Wie für zahllose andere ist sie auch Henry Rago Kritiker, Freund und Mentor geworden. Aber es dauerte noch drei Jahre, bevor ein Gedicht Henry Ragos in „Poetry“ erschien.
Von Anfang an war es das Ziel der Zeitschrift, nur das Beste aus dem eingereichten Material zu veröffentlichen. Sie bemüht sich, keiner dichterischen Richtung den Vorzug vor einer anderen zu geben. Der Dichter selbst bestimmt seinen Weg, so erklärt man, und er beschreitet nicht den, den der gehen sollte, sondern einfach den, den er gehen muß. 
Doch während eine strikte Unabhängigkeit von Strömungen, Schulen oder Gruppen aufrechterhalten wird, hat Henry Rago festumrissene Ansichten über ein Gedicht: „Ein Gedicht sollte etwas Bedeutsames sagen. Aber dieses Bedeutsame muß nicht etwas sein, was ich als die Grunddoktrin meines Lebens oder meiner Lebensart erachtete.“ Vielleicht ist es diese ganz vorurteilsfreie Einstellung, die es „Poetry“ ermöglicht hat, seine Mission zu erfüllen – trotz steigender Publikationskosten, denen durch die Kombination großzügiger Spenden und Abonnement-Preise zu begegnen versucht wird.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 18.04.1958 unter "Poesie – eine Liebhaberzeitschrift mit Tradition". Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „Familienzusammenführung ist ein Gebot der Menschlichkeit“ oder „165 junge Amerikaner als Fremdenführer in Brüssel“, klicken Sie bitte hier.

Harriet Monroes "Poetry"