Gegenwartsliteratur der Vereinigten Staaten – ein Spiegel der Zeit

Lesen Sie den ersten Artikel einer vierteiligen Serie, die die amerikanische Gegenwartsliteratur als Spiegelbild ihrer Zeit versteht: Neun ausgewählte Autoren werden vorgestellt, die allesamt brechend mit Konventionen die Gefühlswelt des Menschen versucht haben, literarisch offenzulegen.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

In den folgenden vier Märzausgaben bringen wir eine Studie über den amerikanischen Roman der Gegenwart. Wir bitten zu beachten, daß deutsche Buchtitel nur dort beigefügt wurden, wo autorisierte Übersetzungen in deutscher Sprache vorliegen.

Große Romane waren stets auch ein Spiegelbild ihrer Zeit. Die großen Bücher unserer Tage machen keine Ausnahme. Nur erfüllen sie ihre Aufgabe auf eine neue Art. Rücksichtslos durchstoßen sie die harte Oberfläche der Konventionen und legen die menschlichen Enttäuschungen, Ängste, Sehnsüchte, Triebe und himmelstürmenden Hoffnungen in einer Weise bloß, die ohne Beispiel ist in vorausgegangenen Jahrhunderten. Die neun nachstehend behandelten Romanciers, die so eindeutig Stimmen unserer Zeit sind, gehören zu den etwa 15 namhaften Literaten, die derzeit in den Vereinigten Staaten leben und schreiben.
Dem Kenner amerikanischer Literatur werden die Namen Dos Passos, Hemingway, Faulkner, Caldwell, Farrell, Steinbeck und Richard Wright nicht fremd klingen. Ihnen allen sind bei aller Unterschiedlichkeit ein harter Realismus, eine gewisse Respektlosigkeit, ja sogar Mißtrauen gegenüber bürgerlicher Moral und Sentimentalität gemeinsam. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Verfalls und seelischer Nöte zeichnen sie in scharf gezogenen Konturen das unretuschierte Bild des modernen Lebens. Gleich scharf beobachtend, wenn auch milder und nachsichtiger in ihrem Urteil, finden wir John Marquand und Pearl S. Buck, die den vorliegenden Essay über zeitgenössische amerikanische Romanliteratur abrunden werden.
Aber selbst dort, wo sie sich am unbändigsten gebärden, beeindrucken diese Autoren noch durch die echte menschliche Sorge um die Wahrung der geistigen und sittlichen Würde eines jeden einzelnen. Sie bemühen sich aufzuzeigen, daß unsere Lebensform, trotz ihrer Schwächen, der Willkür Grenzen setzt und daß die Maximen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle zwar keine amerikanische Erfindung sind, in der amerikanischen Revolution aber aufs neue manifestiert wurden.

Die Wegbereiter und die Zeitgenossen

In den USA stand die Periode des realistischen Romans bald nach dem ersten Weltkriege in voller Blüte. Wir verdanken ihr eine ganze Reihe erregender Prosadichtungen. Nicht unterschätzt werden darf allerdings das Verdienst, das ihren Wegbereitern zukommt, die schon vor der Jahrhundertwende mutig genug waren, sich von der falschen Scham einer allzu zartbesaiteten Tradition und ihren vielen Tabus abzuwenden.
Schrieb man bislang vorwiegend über außergewöhnliche Leute und außergewöhnliche Umstände, legte Wert auf guten Geschmack und gute Manieren, wie man sagte, und übte große Zurückhaltung im Reden, Denken und Handeln, so begannen bereits in den 80er-90er Jahren die Naturalisten William Dean Howells, Stephen Crane und Frank Norris damit, den Dingen und Menschen, über die sie schrieben, größere Lebensnähe zu geben, das heißt, sie wahrhafter zu machen. Sie scheuten sich nicht, Mißstände beim Namen zu nennen, schrieben über die Ausbeutung der Arbeiter, über Geschäftsgebaren und Wirtschaftspraktiken, über das Los von Farmern und Einwanderern und rannten Sturm gegen die festgefahrenen, erstarrten Moden der Zeit.
Um die Jahrhundertwende machte ein weiterer „Bilderstürmer“ von sich reden: Theodore Dreiser, der sich in noch stärkerem Maße zum Bannerträger für Wahrheit und Freiheit machte. Er sprengte die Fesseln des viktorianischen Konventionalismus und schuf Gestalten und Geschehnisse, die als wirklichkeitsnah galten. In „Sister Carrie“ (1900) – Schwester Carrie – waren bereits jene Stimmen hörbar, die in der amerikanischen Literatur nicht mehr verstummen sollten, die sich auflehnten gegen die Engstirnigkeit der Lebensansichten, die Dörfer und Kleinstadt tyrannisierten. Noch eindringlicher sprach diese Stimme aus dem 25 Jahre später erschienenen Romanwerk Dreisers „An American Tragedy“ – Amerikanische Tragödie – durch Clyde Griffiths, der die Heimat um ihrer geistigen Enge willen verläßt, blindlings nach Geld und Erfolg greift, um am Ende erkennen zu müssen, daß es ein Griff ins Leere war.
Auch Sinclair Lewis und Sherwood Anderson traten gegen die falschen Götter Geld und Erfolg auf. Sie warfen mit den eigenen Ressentiments ungestüm auch die Fesseln der kleinstädtischen Herkunft ab. In „Main Street“ (1920) – Main Street – und zwei Jahre später in seinem Roman „Babbitt“ (1922) – Babbitt – spottete Sinclair Lewis auf geistvolle Weise über die Mittelmäßigkeit und Monotonie der amerikanischen Kleinstadt und den unzerstörbaren Optimismus des amerikanischen Mittelständlers.

Sherwood Anderson dagegen drang tiefer in die Psyche Amerikas ein. Er war nicht wie Sinclair Lewis ein Satiriker, sondern ein Grübler, den die scheinheilige Selbstgefälligkeit der Kleinstadtmenschen weniger erzürnte als Sinclair Lewis. Sein Anliegen waren ihre Enttäuschungen, ihre quälende Verlassenheit. Die Charaktere seines berühmtesten Romans, „Winesburg, Ohio“, beispielsweie sind alle von geheimen Ängsten und Sehnsüchten getrieben, gleichzeitig aber daran gehindert, ihnen nachzugeben, weil ihnen die Konvention jeden gesunden Ausdruck natürlicher Empfindung einfach verbietet. Sie alle sind Opfer einer Gesellschaft, die das Beste in ihnen erstickt. Nicht die Satire beherrscht seine Romane, sondern das Mitleid.
Provinzflucht ist auch das Thema der vierbändigen Romanerzählung von Thomas Wolfe, eines autobiographischen Opus, dessen ersten Band, „Look Homeward, Angel“ – Schau heimwärts, Engel –, 1929 erschienen ist und das 1940 mit „You Can't Go Home Again“ – Es führt kein Weg zurück – abgeschlossen wurde. Alle durchzieht wie ein roter Faden die Suche nach innerer Gewißheit, in jedem versucht der Held vergeblich, sich der Welt anzupassen und jenen höchsten Wert zu finden, der ihm Rettung verheißt. Gleichzeitig aber sind Wolfes Werke ein Ruhmeslied auf Amerika – seine kontinentale Weite, seine endlose Vielfalt, seine rastlose Energie. Mehr als jeder andere Romancier der Zeit beschäftigte sich Wolfe mit dem überschwänglichen Idealismus der Jugend und deren immer wachem Erlebnishunger.
Auch ein Rebell, wenngleich aus anderem Holz geschnitzt, war F. Scott Fitzgerald, der Zeitgeschichtler par excellence, der höchste geistige Freiheit für sich in Anspruch nahm und schon zu Beginn seiner Laufbahn zum Hohenpriester der „flaming youth“, der flammenden Jugend des Jazzalters, wurde. Die Klage über sein durch den Krieg zerbrochenes und entzaubertes Weltbild spricht aus jeder Seite seines Romans „This Side of Paradise“ (1920).
Aber obwohl fasziniert vom Glanz und Flitter jener Tage, ließ Fitzgerald sich doch nie von ihrem falschen Schein blenden. In seinem wohl besten Buch (...)

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 04.03.1960 unter dem Titel "Der amerikanische Roman – neun repräsentative Stimmen unserer Zeit – 1. Folge einer Serie von 4 Artikeln." Um den vollständigen Artikel zu lesen, klicken Sie bitte hier.

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