Der Zusammenhang von Schizophrenie und biochemischem Ungleichgewicht

Das Hören von Stimmen, Halluzinationen, Wahn: Das Krankheitsbild der Schizophrenie vereint oftmals mehrere Symptome, die bis zur Psychose führen können. Dr. J. Gottlieb gelang es nach 40 Jahren Forschung, aufsehenerregende Ergebnisse in der Schizophrenie-Forschung zu erzielen. Lesen Sie mehr über den Wissenstand der 70er-Jahre im Amerikadienst vom 17.05.1972.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

In einem Vortrag vor der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie in Dallas (Texas) erläuterte einem Bericht der New York Herald Tribune zufolge Dr. J. Gottlieb von der Wayne-Universität (Detroit, Michigan) aufsehenerregende Ergebnisse seiner nahezu 40jährigen Forschung zur Aufklärung der Ursachen von Schizophrenie. Zusammen mit dem Biochemiker Dr. Charles Frohman gelang es ihm, ein kleines Eiweißkörperchen zu isolieren, das der Körper in Stress-Situationen psychischer oder physischer Natur produziert. Dieses S-Protein besitzt nach Feststellung der beiden Wissenschaftler bei Schizophrenen eine korkzieherähnliche Form, bei gesunden Personen dagegen ist es ähnlich wie ein Blasebalg oder eine Feder gefaltet. Dieser Formunterschied sei, so Dr. Gottlieb, maßgebend für die Wirkungsweise des Proteins. Sie führe bei Schizophrenen zu einer erhöhten Aufnahme von Tryptophan (einer essentiellen Aminosäure) im Hypothalamus, dem Zwischenhirn mit dem Erregungszentrum. Tryptophan wiederum ist wichtig für die Bildung von Serotonin, das bei der Übermittlung von Botschaft zwischen den Gehirnzellen eine große Rolle spielt.
In überaus mühevoller Arbeit untersuchten die Wissenschaftler u.a., welche Verbindungen im Zwischenhirn unter dem Einfluß von Tryptophan entstehen. Eine davon, Dimethyltryptamin, ruft Psychosen und Halluzinationen hervor. Diese Verbindung wurde schon früher im Blut und Urin von Kranken im akuten Schizophrenie-Anfall in wesentlich höheren Konzentrationen festgestellt, als sie bei nicht-schizophrenen Personen zu beobachten ist. Es muß also eine Substanz geben, die im gesunden Organismus die ganze Reaktionskette und somit auch die Produktion und Aktivität des korkzieherförmigen S-Proteins steuert. Die Substanz von der Natur eines Enzyms – Dr. Gottlieb nennt sie Anti-S-Protein – konnte nach langwierigen Tierexperimenten jetzt isoliert werden. Sie ist nur im Gehirn gesunder Tiere nachzuweisen, nicht aber bei Versuchstieren mit typischen Schizophrenie-Merkmalen. Sie reguliert die Produktion des korkzieherförmigen S-Proteins, d.h. Sie beschränkt sie im gesunden Organismus auf die Perioden mit besonderen seelischen oder körperlichen Belastungen. Beim Schizophrenie-Kranken dagegen läuft diese Produktion ungeachtet der jeweiligen Belastungssituation weiter, so daß es zu einer Art „Eigenvergiftung“ im Erregungszentrum des Gehirns kommt. Diesen Prozeß mit einer geeigneten Substanz in der richtigen Dosis am richtigen Ort zu unterbrechen, wäre der nächste logische Schritt. Nach Meinung Dr. Gottliebs sind dazu noch manche Jahre wissenschaftlicher Vorarbeit im Laboratorium erforderlich.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst vom 17.05.1972 unter dem Titel "Schizophrenie – eine Einzymmangelkrankheit". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: „Die wahre Mehrheit: 1972“, oder „Die US-Handelspolitik kämpft an zwei Fronten“, klicken Sie bitte hier.

Der Zusammenhang von Schizophrenie und biochemischem Ungleichgewicht