Das Tagebuch der Anne Frank

"Juden und Christen warten, die ganze Welt wartet, und es gibt viele, die nur auf den Tod warten." Ein Auszug aus Anne Franks Tagebuch, in dem das junge Mädchen ihr Leben schildert: von einer einst sorglosen Kindheit bis hin zu Deportation, Gestapo, Konzentrationslager und Tod. Bereits in den 50er-Jahren zählte es zu den meistverkauften Taschenbüchern. Ein Amerika Dienst Artikel über das autobiografische Werk, das in 70 Sprachen übersetzt, heute zur Weltliteratur zählt.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Illustration von Joanna Pawlik 

New York – Zehn Jahre ist es nun her, daß die kleine Anne Frank zu ihrem 13. Geburtstag ein Tagebuch geschenkt bekam, in dem sie von da an mit rührender Sorgfalt all die kleinen und großen Erlebnisse ihres kindlichen Daseins eintrug. Es waren heitere Begebenheiten, die die ersten Seiten dieses Buches füllten, obwohl es Annes Eltern als politische Flüchtlinge aus Deutschland ein mehr als bescheidenes Leben im damals besetzten Holland fristeten. Da stand eine begeisterte Schilderung des alten Rin-Tin-Tin-Filmes, den Anne in einem kleinen Vorstadtkino gesehen hatte, und da stand auch getreulich aufgezeichnet, daß die Lehrerin Anne ein „unverbesserliches Schwatzmaul“ genannt hatte.
Aber die unbeschwerte Heiterkeit, die aus all diesen kleinen Episoden sprach, wurde mit jenem Tage plötzlich zum Ersterben gebracht, an dem die vierköpfige Familie Frank von Hitlers Gestapo zu einer politischen Überprüfung vorgeladen wurde. Die Franks kamen dieser Aufforderung nicht nach, sondern bezogen vielmehr – zusammen mit einer anderen, ebenfalls rassistisch verfolgten dreiköpfigen Familie aus Holland und einem alleinstehenden Dentisten – ein bereits längere Zeit vorher vorbereitetes Versteck in dem leerstehenden Flügel eines Bürogebäudes in Amsterdam. Zwei Jahre lang lebten die acht gehetzten, verfolgten Menschen in dieser wahrhaft menschenunwürdigen Behausung, ständig unter dem Druck einer panischen Angst, entdeckt zu werden.
Anne führte auch in dieser Zeit ihr Tagebuch getreulich weiter. Und die schriftlichen Aufzeichnungen dieses kleinen Mädchens, die im Jahre 1947 in Amsterdam, später in England, Frankreich, Deutschland und nunmehr auch in den USA in Buchform veröffentlicht wurden, sind zu einem der erschütterndsten Zeitdokumente unserer Tage geworden. Mit einem für ihr Alter bemerkenswert reifen und ausgefeilten Stil und einer Beobachtungsgabe, wie sie nur wenigen Menschen zuteil wird, führt sie uns hier aus der Perspektive ihres eigenen tragischen Lebens einen Zeitabschnitt vor Augen, der wohl zu den traurigsten Kapiteln unseres zwanzigsten Jahrhunderts zählt.
„Fräulein Quack-Quack“, wie sich Anne selbst nannte, führte trotz ihrer unfreiwilligen Weltabgeschiedenheit und der qualvollen Banalitäten, die sie durch das ständige Zusammenleben mit sieben anderen Menschen auf kleinsten Raum umgaben, ein reiches Eigenleben. Stundenlang vertiefte sie sich täglich in die Werke Goethes und Schillers, die sie in ihr Exil hinübergerettet hatte, reimte sich aus Kinobildern, die sie in Zeitschriften fand, die ganze Handlung der Filme zusammen, studierte griechische Mythologie und lernte im Selbstunterricht Stenographie.
Ihr aufmerksamstes Interesse aber galt ihren Eltern. Sie erkannte bald, daß sie eigentlich nur ihren Vater liebte: „Ich sehne mich nach Vaters wirklicher Liebe – nicht nur einer Liebe zu mir als seinem Kind, sondern zu mir, Anne, selbst.“ Ganz anders beschreibt sie ihr Verhältnis zu ihrer Mutter: „Wir sind in jeder Beziehung ausgesprochene Gegensätze; kein Wunder, daß wir deshalb ständig aneinandergeraten. Ich maße mir nicht an, über Mutters Charakter zu urteilen, denn ich weiß, daß mir das nicht zusteht. Ich betrachte sie nur als Mutter, und ich muß dabei immer wieder erkennen, daß sie das für mich nicht ist; ich muß meine eigene Mutter sein.“
Trotz all des Schweren, das Anne zu ertragen hatte, verlor sie doch niemals ihren Sinn für Humor, der sich auch in ihrer Art zu schreiben ausdrückt. Wenn beispielsweise Frau van Daan über eine geprellte Rippe klagte, dann schrieb Anne in ihr Tagebuch: „So etwas passiert, wenn alte Damen durch idiotische Übungen ihr überschüssiges Fett loswerden wollen“; und wenn Herr Dussel sich damit beschäftigte, Frau van Daans Backenzähne in Ordnung zu bringen, dann verglich Anne diese Szene mit einem mittelalterlichen Bild unter der Überschrift: „Ein Quacksalber bei der Arbeit“. Aber das Mädchen konnte sich auch ebenso gut über sich selbst lustig machen: ihr geliebtes Tagebuch nannte sie „Herzensergüsse eines häßlichen jungen Entleins“.
Als freilich der Krieg immer schärfere Formen annahm und die Nachrichten von Massendeportationen jüdischer Familien auch in das Versteck der Franks einsickerten, begann Anne hoffnungslos zu verzweifeln. Ihre reich entwickelte Phantasie gaukelte ihr ständig Vorstellungen vom Tod ihrer jüdischen Freunde vor, und oftmals sah sie im Geiste „lange Reihen guter, unschuldiger Menschen in endlosen Kolonnen über verstaubte Straßen ziehen, gestoßen und geprügelt von sadistischen Wachen, bis sie zusammenbrachen ...“ In wahrhaft erschreckender Weitsicht schrieb sie einmal: „Wir können nichts anderes tun, als ruhig warten, bis dieses Elend ein Ende findet. Juden und Christen warten, die ganze Welt wartet; und es gibt viele, die nur auf den Tod warten.“
Obwohl Anne nicht viel von Politik verstand (...)

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Für die Frau“ vom 09.07.1952 unter dem Titel "Die ganze Welt wartet – das Tagebuch der 13-jährigen Anne Frank, in dem ein Kind von Gewalt, Not und Tod berichtet, ist ein erschütterndes Dokument unserer Zeit". Um den vollständigen Artikel zu lesen, klicken Sie bitte hier.

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