Carson McCullers' "NYACK am Hudson"

Im 18. Beitrag der Artikel "Das ist Amerika", schreibt Carson McCullers, die in den 50er-Jahren als eine der jüngsten Schriftstellerinnen Amerikas galt, über ihre Heimatstadt Nyack am Hudson. Erfahren Sie mehr über einen Vorort New Yorks, der unscheinbarer nicht heißen könnte, aber historisch und kulturell einiges zu bieten hat.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Carson McCullers, eine der jüngsten Schriftstellerinnen der Vereinigten Staaten ist ein Kind des Südens. Ihr Geburtsort ist Columbus im südlichen Georgia, das sie 1934 mit 17 Jahren verließ, um in New York Musik zu studieren. Später schrieb sie selbst über diese Reise: „Die Stadt und der Schnee – ich hatte niemals vorher Schnee gesehen – überwältigten mich derart, daß ich nicht zum Arbeiten kam.“ Inzwischen aber hat es sich herumgesprochen, daß Miss McCullers ihre Zeit keineswegs vertrödelt hat. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman „The Heart is a lonely Hunter“ (Das Herz ist ein einsamer Jäger), den Kritiker von Ruf als „zeitweilig von bewunderungswürdiger Dichte“ bezeichneten. Diesem ersten Buch folgten weitere erfolgreiche Romane und „short stories“.

Seit mehr als zehn Jahren lebt und schreibt Carson McCullers nun in dem Städtchen NYACK am Hudson, es ist ihr, wie sie selbst feststellt, zur zweiten Heimat geworden.

Nyack schien mir gerade recht …
Von Carson McCullers

Wenn ich in der Dämmerung auf der Veranda meines Hauses in Nyack im Staate New York sitze und über den Hudsonfluß hinweg auf die Lichter der Stadt Tarrytown am anderen Ufer blicke, dann ist es mir oft, als hörte ich Stimmen aus Amerikas Vergangenheit. Washington Irving, ein großer amerikanischer Schriftsteller und Kosmopolit, schrieb vor hundert Jahren über diese Gegend: „Wer immer den Hudsonfluß hinaufgefahren ist, wird die Catskill-Berge nie vergessen. Sie wurden in grauer Vorzeit von der großen Bergkette der Appalachen abgetrennt, und ihre Gipfel türmen sich zu nobler Höhe anschwellend und das Land weithin überragend im Westen des Flußgebietes. Bei ruhigem und klarem Wetter strahlen sie in Blau und Purpur und drücken dem klaren Abendhimmel ihr kühnes Profil auf; dann aber, besonders an wolkenlosen Tagen, umhüllen sie gerne ihre Gipfel mit silbergrauen Schleierhauben, die in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne wie Purpurkronen leuchten und glühen.“

Diese Zeilen beziehen sich auf meine engere Heimat.

Nyack liegt nämlich eingebettet zwischen dem Hudson und den Appalachenbergen. Im Süden, weniger als 50 Kilometer entfernt, liegt New York City. Trotz der großen Nähe der Metropole liegt Nyack nicht an den Hauptverkehrswegen. Und nur wenige Nyacker sind es, die täglich mit eigenem Auto oder Bussen den Weg nach New York und zurück machen. An der Schwelle der Weltstadt gelegen, atmet Nyack mit seinen altmodischen Häusern und Gärten die Würde und den Ernst vergangener Zeiten in stiller und so gar nicht hastender Weise. Und obgleich Nyack alles fehlt, was es zu einer typischen Vorstadt New Yorks machen würde, ist dieser Ort von einer großen Weltaufgeschlossenheit. Es hat internationalen Ruf, vor allem wegen seiner 13 000 Bewohner aus geknechteten Ländern der Welt, die die „Tolstoi Foundation“ hier angesiedelt und ihnen ein neues Leben in Freiheit ermöglicht hat. Sibirische Flüchtlinge reisten unter größten Mühsalen viereinhalb Jahre und legten 8000 Kilometer und mehr zurück auf ihrem Wege über Nordchina, Indien, Nyack bis zur Tolstoi-Farm. Von diesen russischen Flüchtlingen leben 300 in Nyack. Über ein Jahr lang wohnte eine russische Mutter mit ihrem Sohne in meinem Hause. Heute verbindet uns eine ständige Freundschaft. Von allen Ecken der Erde sind sie in unsere kleine Stadt geströmt, deren enge Gassen und Straßen heute oft von den weichen, melodischen Lauten der russischen Sprache widerhallen. Das stärkste Bindeglied zwischen den Menschen und der Welt ist die Kunst. Unsere kleine Stadt ist stolz auf ihre Künstler und dies mit gutem Grund. Hier, ganz in der Nähe von Nyack, ließ sich der große Henry Varnum Poor vor Jahrzehnten schon nieder, als das Land um Nyack noch unberührt und primitiv war. Er baute sein Haus mit eigenen Händen aus Steinen, die er aus einem nahegelegenen Steinbruch holte. In seiner Individualität und Schönheit sicherlich eines der schönsten Häuser der Welt: ein langgestreckter zweigeschossiger Bau mit einem Freilicht-Studio und Brennofen, selbstgemalten Bildern an den Wänden, auf den langen Tischen auserlesen schönes Porzellan und Töpferarbeiten, kurz jedes Stück in diesem Hause trägt den Stempel des großen Künstlers. Sein Nachbar ist Maxwell Anderson, dessen Theaterstück „High Tor“ dieser Region Amerikas gewidmet ist. Auch der Publizist Henry Simon hat an der Südlichen Bergstraße sein Haus in dem er mit Frau und seinen fünf Kindern wohnt. Zu unseren Nachbarn gehören auch die Schauspieler Katharine Cornell und Burgess Meredith.


In Upper Nyack, umgeben von großen Rosengärten haben der Dramaturg und Bühnenautor Ben Hecht, die Schauspielerin Helen Hayes und ihr schriftstellernder Mann Charles MacArthur ihre Häuser, deren großangelegte Terrassen bis an das Hudsonufer reichen. Wie alle Nyacker liebt auch die große Schauspielerin ihr Haus am Hudson, den Rosengarten, das Schwimmbad und den Fluß. Nyack ist meine Wahlheimat seit über zehn Jahren. Ich wollte New York City nahe sein, aber weder dort noch in einer der so überaus selbstbewußten Künstlerdörfer leben. Nyack schien mir gerade recht, es ist wohl stolz auf sein Künstlervolk, aber keineswegs eine selbstbewußte Stadt. Ich sitze auf der Veranda meines Hauses, der Fluß leuchtet wie ein blausilbernes Band. Möwen ziehen über dem Fluß ihre Kreise und erinnern an Ozeane und ferne Länder an fernen Küsten.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 07.12.1955 unter dem Titel "Das ist Amerika (XVIII) Zwanzig Dichter und Schriftsteller schreiben über "ihre" Stadt – NYACK am Hudson, von Carson McCullers" . Für weitere Artikel dieser Ausgabe wie: „Durch Radioisotope zu höherem Bodenertrag“ oder „Die Gemeinde der „großen Bücher“, klicken Sie bitte hier.

Carson McCullers' "NYACK am Hudson"