Bücher zum Fühlen und Hören

Bücher korrigieren, ohne lesen zu können? Im amerikanischen Blindenhaus in Louisville gehört diese zum Arbeitsalltag von Tina Lou und anderen Menschen ohne Sehvermögen. In der Abteilung "Sprechende Bücher" entstehen Bücher, die man erfühlen und hören kann.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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Von George N. Reynolds

Louisville (Kentucky) – Das große Büro ist merkwürdig still. Bücher nehmen zwei Wände ein, aber die Bibliothekarin kann sie nicht lesen. Sie sitzt bewegungslos an dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes. Auf einem Tischchen daneben zieht ein Plattenspieler langsam seine Kreise. Aus einem Lautsprecher kommt die klare, gut artikulierte Stimme eines Mannes, der die neueste Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Newsweek“ verliest.
Miss Tina Lou Wallace kann Sie nicht sehen, wenn Sie hereinkommen. Sie kann weder die Platte, noch den Lautsprecher, noch die Bücher sehen. Aber sie ist Korrektorin. Empfindliche Ohren und ein wendiger Geist registrieren jedes Oberflächenstrukturgeräusch auf der Platte, jede falsche Aussprache oder Betonung des Lesers. Sie notiert alles, arbeitet von rechts nach links mit etwas, das aussieht wie eine Ahle und Braille-Punkte in schweres Papier stanzt.
Miss Wallace ist Redakteurin der Abteilung „Sprechende Bücher“ des amerikanischen Blindendruckhauses. Hier arbeitet ein halbes Dutzend Menschen ohne Sehvermögen zusammen mit 200 Sehenden. Die Bücher, die sie umgeben, erhalten durch das Projekt „Sprechende Bücher“ Stimme.
Miss Wallace lächelt beim Schnappen der Tür einen Gruß in die Richtung ihres Besuchers. Der fühlt sich bald wohl, und wenn er dennoch Hemmungen hat, eine Frage zu stellen, hilft sie ihm schnell darüber hinweg: „Sie dürfen nicht vergessen: blinde Menschen sind einfach Menschen, die nicht sehen können.“
Dies ist die Einstellung hier, in der Welt größten Unternehmen für Blindenhilfsmittel. „Die Blinden wollen kein übermäßiges Mitleid“, sagt Glenn Scheurich, der Leiter der Abteilung „Sprechende Bücher“, und fährt fort: „Sie versuchen, sich so unabhängig wie möglich zu machen, und zwar sowohl sozial wie wirtschaftlich. Unsere Aufgabe ist es, ihnen dabei zu helfen.“
Die Wege, die das Druckhaus in seinem Bemühen zu helfen beschritten hat, haben sich seit der Zeit, zu der die einzelnen amerikanischen Blindenschulen es für den Druck von Büchern in Brailleschrift gegründet haben, vervielfacht. Wie das ursprüngliche Haus von modernen dreistöckigen Druckerzeugnisse in einer Menge neuen Materials und neuartigen Geräts untergegangen, das einzig und allein dafür erdacht wurde, Tastsinn und Ton Ersatz für das Augenlicht werden zu lassen.
Tausende von Büchern in Brailleschrift – Romane, Fachbücher und Nachschlagwerke – sind hier entstanden. Fast 70 Zeitschriften werden hier regelmäßig in Brailleschrift herausgebracht.
Hierfür waren sinnreich erdachte Produktionsmethoden und -einrichtungen erforderlich. In einem oberen Stockwerk zum Beispiel lochen zwei Dutzend Frauen dünne Stahldruckplatten mit Kombinationen sechspunktiger Brailletypen. Da niemand kommerziell Braille-Stereotypiemaschinen, -pressen oder -schreibmaschinen herstellt, muß alles im Hause entworfen und zusammengebaut werden.
Die Blindenschrift ist nicht das einzige Medium, in dem blinde Menschen ihren Tastsinn anwenden. Auch Reliefkarten und -globen gehören dazu und Landkarten, die aussehen wie Puzzlespiele, so sind die Staaten darauf aneinandergesetzt.
Früher mußte jede Karte aus Holz geschnitzt werden, was ein langsames und teures Verfahren war. Heute hat man aus Teilen der alten Holzkarten Plastikformen hergestellt, aus denen leicht neue Plastikkarten gegossen werden können. Auch Globen werden auf diese Weise hergestellt.
Blinde Musiklehrer, die sehende Kinder unterrichten, können vom Druckhaus Notenlinien aus Draht mit beweglichen Notenknöpfen und anderen Zeichen erhalten. Wieder andere Erfindungen dienen dem Mathematikunterricht durch blinde Lehrer und lösen technische Probleme.
Dennoch hat auch der Tastsinn seine Grenzen. Vier von fünf Blinden (in den USA gibt es rund 350 000) können zum Beispiel keine Blindenschrift lesen. Dies ist einer der Gründe, weswegen die Amerikanische Blindenstiftung in New York 1934 den Ton in den Dienst der Blinden gestellt hat, als sie das erste „Sprechende Buch“ herausbrachte. Zwei Jahre später nahm sich das Druckhaus des Projektes an. Heute sind rund 4000 Titel auf Grammophonplatten zu haben. Die Herstellung der Braille-Bücher durch das Druckhaus und der „Sprechenden Bücher“ durch Druckhaus und Stiftung wird teilweise von der amerikanischen Regierung unterstützt. Beide ohne Profit arbeitenden gemeinnützigen Einrichtungen hängen jedoch weitgehend von freiwilligen Zuwendungen ab.
Bald schon bezog die Schallplattenabteilung auch „Sprechende Magazine“ in ihr Programm mit ein. Vor knapp einem Jahr erschien „Newsweck“, das erste Wochenmagazin, das als Blindenlektüre auf Schallplatten gesprochen wurde.
48 Stunden nach Erscheinen des gedruckten Erzeugnisses ist es als gesprochenes Magazin versandfertig. „The Reader's Digest“ erscheint monatlich in einer Auflage von 5000 Platten. Für Abwechslung sorgen das „Ellery Queen Mystery Magazine“ und mehrere religiöse Schriften.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Für die Jugend“ im Februar 1960 unter dem Titel "Sprechende Bücher – das Blindendruckhaus in Louisville liefert Ersatz für Augenlicht". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: „Rip Van Winkle“, oder „Warum leuchten Glühwürmchen?“, klicken Sie bitte hier.

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