"Architektur ist Leben" – eine Architekturausstellung im Metropolitan Museum of Art

Architektur: eine Kunstform, in der sich gesellschaftlicher Wandel spiegelt. Lesen Sie die Rezension über die Architekturausstellung im Metropolitan Museum of Art im Jahr 1959, geschrieben von Norman Smith.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Illustration von Adeline Krems

Ein Artikel von Norman Smith

New York – „Architektur ist Leben, oder wenigstens Form annehmendes Leben; sie ist deshalb die echteste Dokumentation des Lebens, so wie es gelebt wird.“ Diese Worte, niedergeschrieben von dem erst vor kurzem verstorbenen amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright, könnten das Motto der Architekturausstellung sein, die augenblicklich im Metropolitan Museum of Art in New York zu sehen ist und anschließend auch in verschiedenen amerikanischen Städten gezeigt werden wird.

Diese Sammlung von Photographien, Diagrammen, Farbdias, Modellen und Mustern von Baumaterialien 66 besonders bedeutender Bauten stellt klar heraus, daß Architektur vor allem eine Kunst ist, die eine sich wandelnde Gesellschaft widerspiegelt.

Die Suche nach sinnvollen Formen – Formen, die in der modernen Gesellschaft eine Funktion ausfüllen – hat nie soviel Verständnis und Mut von den Architekten gefordert wie in unserem Jahrhundert. Die tiefgreifenden Wandlungen, die wissenschaftlichen Fortschritt, Kriege und soziale Umschichtungen hervorgerufen haben, erlegten den Männern, die der Realität unserer Zeit mit Logik und Schönheit Ausdruck zu verleihen versuchen, viele neue Aufgaben auf. In der Suche nach einer neuen Architektur hat sich eine kleine und ausgewählte Gruppe als tonangebend herausgeschält. Die Ausstellung im Metropolitan Museum hebt unter dem Titel „Formgeber um die Jahrhundertmitte“ 13 dieser Schrittmacher heraus. Ihr Organisator ist das Magazin „Time“ für „The American Federation of Arts“.

Es kommt nicht unerwartet, daß die ausgewählte Gruppe vorwiegend aus Amerikanern besteht. Man darf darin keinen Chauvinismus sehen. Es ist vielmehr ein Zeugnis für die Möglichkeiten, die der phänomenale wirtschaftliche Aufstieg der USA der Architektur geboten hat. Zudem ist fast die Hälfte der zu Wort kommenden Architekten im Ausland geboren und erst später, auf der Suche nach künstlerischer Freiheit oder größeren Möglichkeiten, nach Amerika gekommen. Alle zusammen haben sie im vergangenen Jahrzehnt der amerikanischen Architektur zu der Stellung verholfen, die sie heute zweifellos einnimmt: die einer internationalen Macht.

Fünf der 13 Architekten werden als „die großen Schöpfer“ bezeichnet: Frank Lloyd Wright, die gebürtigen Deutschen Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, der in der Schweiz geborene französische Pionier Le Corbusier und der finnische Meister Alvar Aalto. Von der zweiten Generation wurden acht schöpferische Kräfte ausgewählt: der geborene Ungar Marcel Breuer, Wallace K. Harrison, Philip C. Johnson, der aus Österreich stammende Richard J. Neutra, der in Finnland geborene und in den USA ausgebildete Eero Saarinen, Edward D. Stone, der Ingenieur R. Buckminster Fuller und das Architektenbüro Skidmore, Owings und Merrill.

Den Ehrenplatz in der Ausstellung nimmt natürlich Frank Lloyd Wright ein, auf dessen Schaffen sich die amerikanische Architektur von heute gründet. In der langen Zeit seines Wirkens hat er über 2000 Bauten entworfen und über 1000 tatsächlich ausgeführt. Welches Projekt es auch sein mag – das phantasievolle Landhaus, das auf einem Felsen über einen Wasserfall hinausragt, sein Wüstenheim „Taliesin West“, das er selbst als „raumliebende Architektur“ beschrieb, oder sein letztes Werk, das umstrittene Guggenheim-Museum in New York – die Begabung des Meisters, den Raum als Ausdruck der menschlichen Freiheit zu behandeln, dringt überall durch.

Es folgen Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius, beide eng dem Bauhaus verbunden, jener deutschen Schule für Baukunst, die in den ersten Dekaden des Jahrhunderts viele der Formen entwarf, die heute als „modern“ angesprochen werden. Beide arbeiten seit über 20 Jahren in den USA, Mies van der Rohe am Illinois Institute of Technology, Gropius, der Begründer des Bauhauses, an der Harvard-Universität. Gropius' repräsentatives Werk – von der neuen Universitätsstadt der Harvard bis zur neuen amerikanischen Botschaft in Athen – spiegelt seine Auffassung von der Einheit von Kunst und Technik wider. Mies van der Rohes strenges ästhetisches Prinzip „weniger ist mehr“ kommt nirgends stärker zum Ausdruck als in seinem ersten ausgeführten Wolkenkratzer, dem Seagram-Haus in New York, an dem Philip C. Johnson mitgearbeitet hat. Von oben bis unten mit Bronze und graugetöntem Glas verkleidet, ist das 38 Stockwerke hohe Gebäude eine Studie in Klarheit, Würde und Eleganz.

Le Corbusier und Alvar Aalto sind in der Ausstellung insbesondere wegen ihres starken Einflusses auf die Hauptströme der modernen Architektur vertreten. Corbusiers Kapelle in Ronchamp (Frankreich) illustriert in vollkommener Weise seine Definition der Architektur als das meisterliche, richtige und wunderbare Spiel der Massen im Licht. Aalto ist bekannt für seine Verwendung freier Formen und sein Materialgefühl. Beides wird in der gewölbten Backsteinfassade deutlich sichtbar, die sein bekanntestes Bauwerk in den USA, das Baker House des Massachusetts Institute of Technology, aufweist.

Die Ausstellung zeigt auch weitgehend auf, daß die zweite Generation der modernen Architekten die Suche nach neuen Lösungen für Formprobleme vorantreibt. Hervorragende Beispiele dafür sind Wallace K. Harrisons Kirche aus Betonplatten und farbigem Glas, deren Form an das alte christliche Symbol des Fisches erinnert; Edward D. Stones US-Botschaft in New Delhi, die modern und dennoch stark von den spitzenartigen Steingittern mohammedanischer Bauweise beeinflußt ist; das bahnbrechende „Lever House“ aus Glas und Aluminium des Architektenbüros Skidmore, Owings und Merrill; Philip C. Johnsons glockenförmiger New Harmony Shrine in Indiana, der an einen alten Hindu-Tempel erinnert; Neutras geräumige Wohnhäuser, die sein Bemühen, das Wohnen psychologischen Erfordernissen anzupassen, erkennen lassen; Breuers Warenhaus Bijenkorf in Rotterdarm, das mit seiner bienenkorbähnlichen Struktur wie ein Gegengift gegen die derzeitige Überbetonung des Glases wirkt; Saarinens weite Skala räumlicher Konzeptionen, wie sie erst kürzlich in den Flügeln eines Gebäudes auf dem New Yorker Flughafen Idlewild exemplifiziert wurden, und Fullers Kuppel, die auf der amerikanischen Ausstellung in Moskau Verwendung fand, eine phantasievolle Lösung des Problems der Überdachung eines säulenfreien Raums. Wenn eine bestimmte Tendenz aus der Ausstellung zu ersehen ist, so die zunehmende Verwendung von Spannbeton und das Wiederauftreten von Ornamentik sowie die Neuschöpfung vergangener Architektur mit modernen Ausdrucksmitteln. Inwieweit das Potential bereits bekannter Materialien durch neue technische und architektonische Prinzipien vergrößert werden kann, wird erst die Zukunft erweisen. 

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst „Allgemeines“ vom 21.08.1959 unter dem Titel "Formgeber um die Jahrhundertmitte – Architekturausstellung im Metropolitan Museum of Art". Für weitere Artike dieser Ausgabe wie: „eine blinde Malerin“ oder „Klimaanlage für bemannten Erdsatelliten“, klicken Sie bitte hier.

"Architektur ist Leben" – eine Architekturausstellung im Metropolitan Museum of Art