Arbeitsmarkt: Jobverlust trotz Wirtschaftsboom?

"Im vergangenen Jahr haben amerikanische Industriebetriebe trotz steigender Gewinne 275.000 Arbeitnehmer von ihren Gehaltslisten gestrichen" mit diesen Worten appelliert der Arbeitsminister Robert B. Reich vor dem Council of Institutional Investors in New York und versucht ein Umdenken in der "Verschlankungspolitik" zu bewegen. Lesen Sie den genauen Wortlaut des Appelles aus dem Jahr 1993 in diesem Amerikadienst-Artikel.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

Illustrationen

Washington – Nachfolgend veröffentlichen wir den Text einer vom amerikanischen Arbeitsminister, Robert B. Reich, am 8. Oktober 1993 vor dem Council on Institutional Investors in New York gehaltene Rede im Wortlaut.

Zwischen Spitzenmanagern und Arbeitnehmern in Amerika galt einst ein ungeschriebener Vertrag: Wenn ihr Euch an Eurem Arbeitsplatz engagiert habt, dann konntet ihr darauf zählen, diesen Arbeitsplatz zu behalten, solange die Firma im Geschäft blieb.
Heute jedoch wird dieser stillschweigende Vertrag in immer schnellerem Tempo gekündigt. Selbst verhältnismäßig gesunde Unternehmen bauen Arbeitsplätze ab. Im September wurden in amerikanischen Unternehmen täglich etwa 2,000 Arbeitsplätze vernichtet, die Quote liegt damit um 30 Prozent höher als vor einem Jahr, als sich das Land noch in der Rezession befand. Im vergangenen Jahr haben amerikanische Industriebetriebe trotz steigender Gewinne 275.000 Arbeitnehmer von ihren Gehaltslisten gestrichen.
Aus der Perspektive der Investoren betrachtet, erscheint dieser Trend sinnvoll. Häufig schnellen die Aktienkurse nach der Ankündigung größerer Einschnitte bei den Lohnkosten in die Höhe. Schließlich können selbst gesunde Unternehmen ihre Lage oft noch verbessern, wenn sie sich wirklich auf das absolut Notwendige konzentrieren. Hierarchien können eingeebnet werden, so daß mittlere Leitungsfunktionen zunehmend überflüssig werden. Funktionen, die billiger außerhalb des Unternehmens wahrgenommen werden können, werden auf Subunternehmer verlagert. Rountinevorgänge können automatisiert werden. Die Metapher aus der Metzgersprache für modernes Management scheint zuzutreffen: Es ist Zeit, das Fett abzuschneiden. Überflüssiges loszuwerden, schlank und leistungsfähig zu werden.
Die Motivation für solches Verhalten wird vielfach durch Menschen wie Sie gefördert. Sie verlangen höhere Erträge. Solange die Aktienkurse steigen, während die Beschäftigungszahlen fallen, wird der Beweis dafür erbracht, daß Sie Grund hatten, die Betriebsleitungen zu Einschnitten zu drängen. Selbst wenn Sie die Rentenfonds von Arbeitnehmern vertreten, die infolge solcher Kürzungen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten, liegt es langfristig in unser aller Interesse, amerikanische Unternehmen produktiver zu machen.

Eine leise Warnung

Unter Kapitalanlegern herrscht ein großes Maß an Enthusiasmus für das Verschlanken von Unternehmen, aber ich möchte doch eine Warnung aussprechen. Ich möchte niemanden alarmieren, sondern eine Art gelbes Warnlicht aussenden und eher eine Frage stellen, als eine Meinung formulieren. Sind wir in Gefahr, es zu übertreiben?
Ich beginne mit einer neuen Studie der Unternehmensberatung Wyatt über 531 zumeist große Unternehmen, über die kürzlich im Wall Street Journal berichtet wurde. Drei Viertel der untersuchten Firmen gaben an, sie hätten Arbeitsplätze abgebaut. Die meisten dieser Unternehmen berichteten jedoch auch, daß diese Einschnitte nicht das von den Firmen erhoffte und erwartete Ergebnis erbracht hätten. 85 Prozent der Unternehmen strebten höhere Gewinne an, diese stiegen aber lediglich in 46 Prozent der Fälle. 58 Prozent hatten eine höhere Produktivität erwartet, aber in nur 33 Prozent wurde dieses Ziel auch verwirklicht. Noch interessanter ist die Tatsache, daß innerhalb eines Jahres nach den Kürzungen über die Hälfte der Firmen gestrichene Stellen neu besetzt hatten.
Die Wyatt-Studie wird von einer weiteren jüngeren Untersuchung untermauert, die von Dr. Kenneth De Meuse von der University of Wisconsin mitverfaßt wurde. Dr. De Meuse fand heraus, daß die Gewinne von Großunternehmen schneller sanken als zuvor, nachdem diese Firmen in großen Stil Entlassungen vorgenommen hatten. Sicherlich bedeutet dies nicht unbedingt einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Möglich wäre auch, daß diese Unternehmen bereits vor dem Arbeitsplatzabbau in Schwierigkeiten steckten und es ihnen vielleicht noch schlechter gegangen wäre, wenn sie diese Maßnahmen nicht ergriffen hätten. Bei einer Betrachtung in Zusammenhang mit der Wyatt-Studie drängt sich jedoch die Frage auf, ob der charakteristische Kursanstieg unmittelbar nach der Ankündigung von Entlassungen mehr auf der kollektiven Annahme der Investoren beruht, daß andere Anleger auf diese Nachricht ebenfalls positiv reagieren werden, als auf einer Veränderung der fundamentalen Bedingungen.

Auf längere Sicht

Wie steht es um die längerfristige Perspektive? Möglicherweise dauert es etwas länger, bis radikale Schnitte Wirkung zeitigen. Mir sind keine fundierten Untersuchungen über die längerfristigen Folgen tiefer Einschnitte für die Unternehmensbilanzen bekannt, und ich würde eine solche Studie gerne kennenlernen. Investoren wie Sie jedoch, die an dem längerfristigen Unternehmensergebnis interessiert sind, sollten zumindest in Betracht ziehen, welche unbeabsichtigten Konsequenzen sich wahrscheinlich aus einer Strategie ergeben werden, die den alten stillschweigen Arbeitsvertrag zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern abschafft.
Als erstes bleiben Arbeitsmoral und Loyalität der Arbeitnehmer auf der Strecke, die ihren Arbeitsplatz behalten. Obwohl sich diese Aktiva nicht unmittelbar in den Bilanzen niederschlagen, gehören hohe Arbeitsmoral und Loyalität häufig zu den wichtigsten Aktivposten einer Firma. In immer größerem Umfang lassen sich finanzielle und physische Anlagen eines Unternehmens von Wettbewerbern kopieren (…)

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst vom 09.03.1994 unter dem Titel "Von Metzgern und Bäckern". Um den vollständigen Artikel zu lesen, klicken Sie bitte hier.

Arbeitsmarkt: Jobverlust trotz Wirtschaftsboom?