Abschreckungsmacht der NATO muss bestehen bleiben

Verteidigungsminister Schlesinger betont vor dem NATO-Ausschuß am 08. Juni 1973 die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer Abschreckungsmacht der NATO. Trotz der positiven Ausgangslage der gegenwärtigen Verhandlungen mit der Sowjetunion habe sich die Situation noch nicht stabilisiert.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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Brüssel – Die Vereinigten Staaten haben ihre NATO-Verbündeten aufgerufen, gemeinsam mit ihnen an einer realistischen Abschreckungsmacht des Bündnisses festzuhalten, um den Frieden auch weiterhin zu sichern. Die Haltung der USA legte der designierte amerikanische Verteidigungsminister Dr. James R. Schlesinger am 8. Juni vor dem NATO-Ausschuß für Verteidigungsplanung (DPC) auf dessen Halbjahrestagung im Hauptquartier in Brüssel dar. Dr. Schlesinger, dessen Bestätigung als Verteidigungsminister durch den Senat noch aussteht, erhielt für seine Reise den Status eines Sonderbeauftragten des Präsidenten.
Wie aus amerikanischen Quellen im Anschluß an die vertrauliche Tagung zu erfahren war, hat Dr. Schlesinger die NATO-Verteidigungsminister davor gewarnt, die gegenwärtige Phase der Verhandlungen mit dem Osten bereits als die Entspannung selbst zu betrachten. Nach diesen Berichten hat Dr. Schlesinger darauf hingewiesen, daß gegenwärtig zwar ein „milder Wind“ aus dem Osten wehe, daß dieser Wind jedoch auch sehr rasch umschlagen und wieder „rauh“ werden könne. Unter solchen unsicheren Bedingungen müsse die seit so langer Zeit aufgebaute Verteidigung des Westens erhalten und verstärkt werden. Wie freundlich die Atmosphäre zur Zeit auch scheinen möge, so sei die eigentliche – nukleare und nicht-nukleare – Bedrohung keineswegs verschwunden. Dr. Schlesinger soll weiter betont haben, daß der Westen nicht aus einer Position der Schwäche heraus erfolgreich verhandeln könne.
Nach amtlicher amerikanischer Darstellung hat Dr. Schlesinger drei Aspekte der amerikanischen Politik hervorgehoben:

1. Die Vereinigten Staaten werden weiterhin eine wesentliche Rolle in der Weltpolitik spielen. Sie werden vor allem an ihrer militärischen Verpflichtungen in Europa festhalten. Bei entsprechendem partnerschaftlichem Verhalten der europäischen Verbündeten werden die USA, wie dies Präsident Nixon wiederholt zugesagt hat, ihre Streitkräfte in Europa aufrechterhalten und verbessern. Eine Verringerung kann und wird nur im Rahmen eines verifizierbaren MBFR-Abkommen erfolgen.

2. Die Zeit ist vorbei, da die Vereinigten Staaten sich um alle Probleme überall auf der Welt kümmern können.

3. Die europäischen Nationen sind heute militärisch und wirtschaftlich stärker als je zuvor und daher in der Lage, eine größere Verantwortung für die gemeinsame Verteidigung zu übernehmen. Dr. Schlesinger soll in diesem Zusammenhang die Hauptrolle der USA in der nuklearen Abschreckung bestätigt und zugesichert haben. In einer Ära der nuklearen Parität komme jedoch der konventionellen Stärke nur eine relativ größere Abschreckungswirkung und damit Bedeutung zu.

Wie von amtlicher amerikanischer Seite unterstrichen wird, hat Dr. Schlesinger großen Nachdruck auf die Aufrechterhaltung der konventionellen Stärke des Bündnisses gelegt. Es würde für die Vereinigten Staaten schwierig, ihre Zusage in den kommenden Jahren erfüllen zu können, wenn einige ihre Partner in Europa die Einsatzkraft ihrer konventionellen Streitkräfte verringern. Jeder der Beteiligten müsse seinen Anteil an der Gesamtlast tragen.
Dr. Schlesinger hat, wie von amtlicher Seite berichtet wird, die pessimistische Auffassung abgelehnt, die NATO werde in den kommenden Jahren keine wirksame konventionelle Abschreckung aufrechterhalten können. Die NATO habe heute eine ausreichende konventionelle Abschreckungsstärke und verfüge über die Mittel und die Kapazität, sie in Zukunft aufrechterhalten.
Aus amtlichen amerikanischen Kreisen verlautet in diesem Zusammenhang, daß die USA hier an bestimmte Verbesserungen auf konventionellem Gebiet denken. Einige dieser Ziele gehören in den Rahmen des vor zwei Jahren vereinbarten Programms für die Verbesserung der Verteidigung in den siebziger Jahren -AD-70.
Bezüglich der NATO-Strategie hat Dr. Schlesinger nach Aussagen amerikanischer Quellen betont, daß die Vereinigten Staaten Vertrauen in die Strategie der abgestuften Antwort (flexible response), der Vorne-Verteidigung und der realistischen Abschreckung hätten, und die Hoffnung ausgesprochen, daß sich das Bündnis auch in Zukunft von den eigentlichen Prioritäten leiten lassen werde.
Wie aus amtlichen Quellen verlautet, hat Dr. Schlesinger ferner ein multilaterales Programm der Verbündeten für den Ausgleich der hohen amerikanischen Ausgaben im Rahmen der NATO-Verteidigung angeregt. Spezifische Vorschläge seien jedoch nicht unterbreitet worden. Die USA warteten auf Vorschläge seitens der Verbündeten, und die Reaktion auf die Bemerkung Dr. Schlesingers bezüglich der Lastenteilung sei durchaus verständnisvoll gewesen.
Der NATO-Ausschuß für Verteidigungsplanung nahm ferner die vorangegangenen Beratungen von zehn europäischen Verteidigungsministern, der sogenannten „Euro-Gruppe“ zur Kenntnis, die sich vor allem mit einer stärkeren Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Rüstung befaßt hatte. Die Minister begrüßten im Zusammenhang mit der einhelligen Zielsetzung, die Sicherheit auch weiterhin zu gewährleisten, die Zusicherung Dr. Schlesingers ganz besonders, daß die USA an ihren Verpflichtungen in Europa festhalten wollen.

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst vom 13.06.1973 unter dem Titel "USA halten an realistischer Abschreckungsmacht der NATO fest – Schlessinger in Brüssel". Für weitere Artikel dieser Ausgabe, wie: „Laird erhielt Großkreuz des Bundesverdienstordens“, oder „Rush umreißt weltweite Verpflichtungen der USA“, klicken Sie bitte hier. 

Abschreckungsmacht der NATO muss bestehen bleiben