20 Jahre Mauer – Rede US-Außenminister Haigs

"Doch die Geschichte hat gelehrt, daß es zwischen der Freiheit des Schöpferischen und der Zügellosigkeit des Zerstörerischen einen schmalen Grat gibt." US-Außenminister Haigs anlässlich des 20. Jahrestages der Berliner Mauer – lesen Sie den Wortlaut der Rede im Amerikadienst.

(Anmerkung: Orthographie und Interpunktion sind dem Originaltext nachempfunden. Der Wortlaut des vorliegenden Textes wurde originalgetreu dem Artikel des Amerikadienstes entnommen.)

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Berlin – „Ein europäischer Philosoph schrieb einmal, daß "alle Politik eine bestimmte Vorstellung des Menschen bedeutet. "Vor 20 Jahren lieferte die Berliner Mauer der Welt den dramatischen Beweis einer Art von Vorstellung vom Menschen. In diesem Jahr, da wir den 20. Jahrestag der Mauer erleben, möchte ich über eine andere Vorstellung des Menschen sprechen, eine Vorstellung, die uns viel bedeutet – die wir uns zu verteidigen verpflichtet haben.

Unsere Vorstellung vom Menschen beginnt mit, beruht auf und lebt von einer tiefen Achtung der Rechte des einzelnen – Rechte wie die Freiheit des Wortes, die Freiheit der Religion und die Freiheit der eigenen Wahl. Ein freier Mensch ist ein schöpferischer Mensch. Die Kultur gedeiht, wenn Künstler und Wissenschaftler, Philosophen und Dichter, Gelehrte und Arbeiter ihre Fähigkeiten ungestört entwickeln können. Die Fähigkeit freier Menschen, zusammenzuarbeiten, sei es nun in politischen Parteien, Presseverbänden, freien Unternehmen oder Gewerkschaften ist wesentlich für die Kreativität einer freien Gesellschaft. Sie ist auch die beste Grundlage für andauerndes wirtschaftliches Wachstum.

Doch die Geschichte hat gelehrt, daß es zwischen der Freiheit des Schöpferischen und der Zügellosigkeit des Zerstörerischen einen schmalen Grat gibt. Die Demokratien des Westens sind deshalb beständig auf der Suche nach Ausgewogenheit zwischen Freiheit und Zügellosigkeit, zwischen Verantwortung und Unbesonnenheit. Diese schöpferische Spannung hält unsere juristischen und politischen Institutionen am Leben und verleiht ihnen Kraft. Eine pluralistische Gesellschaft mit einem Gleichgewicht zwischen der Freiheit des einzelnen und dem Gemeinwohl ist an sich schon eine revolutionäre Idee. Die Demokratie hat uns befähigt, noch nie dagewesene Möglichkeiten für unsere Bürger zu schaffen. Aber die Demokratie ist auch das Erbe aller Menschen. Die Idee vom Menschen als schöpferischem und verantwortlichem Einzelwesen hat der modernen Geschichte ihre besondere Form verliehen. Wiederholte Unterdrückungsversuche haben sie stärker und anziehender gemacht denn je. Ich glaube, daß die demokratische Revolution, die sich mit der Leistung unserer Gesellschaften beweist, die beste Hoffnung auf menschlichen Fortschritt bietet. Die Demokratien des Westens genießen ein einmaliges Vorrecht – und haben eine zwingende Verpflichtung –, ihre eigene revolutionäre Doktrin in der ganzen Welt zu verkünden.

Wie steht es nun heute um die demokratische Revolution? Was für eine Zukunft hat sie? Lassen Sie uns der Realität ins Auge blicken. Wir stehen vor einer mehrfachen Herausforderung unserer Idee vom Menschen: Erstens, der Gefahr, den Glauben zu verlieren an die Fähigkeiten der demokratischen Gesellschaften, mit den Herausforderungen der achtziger Jahre fertig zu werden; zweitens, der Gefahr, internationales Verhalten mit zweierlei Maß zu messen; drittens, der Gefahr einer falschen Gegenüberstellung zwischen dem Verlangen nach weiterem gesellschaftlichem Fortschritt und der Notwendigkeit, die Verteidigungsmittel des Westens zu steigern.

Der Verlust an Vertrauen

Heute werden überall in unserem Bündnis die Qualität unserer Gesellschaften und die Zukunft unserer transatlantischen Beziehungen heiß diskutiert. Das ist weder ungewöhnlich noch ungesund. Die Demokratien litten niemals unter einem Mangel an Kritikern, und das Atlantische Bündnis, ein freier Zusammenschluß von Nationen, hat sich stets durch freien Meinungsaustausch ausgezeichnet.
Trotzdem haben Inhalte und Ton unserer Debatten in letzter Zeit eine beunruhigende Wendung genommen.
Zu viele prophezeien eine Zukunft ohne Hoffnung;
Zu viele verunglimpfen die Demokratie als schwach und unentschlossen, als unfähig, mit den Herausforderungen der achtziger Jahre fertig zu werden; und
die allgegenwärtigen Kritiker der NATO tun wieder einmal so, als ob das Bündnis im Begriff sei, zu zerbrechen.
Jede gesunde Gesellschaft macht Zeiten strengster Gewissensforschung durch. Doch wenn das zum Zwang und zum Endzweck wird, muß es unweigerlich zu bösen Folgen führen. Übermäßige Introvertiertheit lähmt, wie das amerikanische Volk leider erfahren hat, den Willen und bedroht damit den Frieden. Bei solchen Gelegenheiten müssen wir uns unserer Werte erinnern. Wir müssen daran arbeiten, in der Gesellschaft das Gleichgewicht wiederherzustellen, das zum Schöpferischen führt. Und wir müssen aufpassen, daß wir nicht den schmalen Grat zwischen Freiheit und Anmaßung überschreiten. Das wäre Verrat an der Verheißung der Freiheit:

Demokratie und die Herrschaft des Rechts können nicht überleben, wenn wir nicht bereit sind, sie zu verteidigen.
Der Pluralismus kann nicht funktionieren, wenn die Interessen einer Gruppe auf Kosten des Allgemeinwohls gefördert werden.
Die Gesellschaft kann nicht vorwärtsschreiten, wenn Gewalt und Sabotage als legitime Methoden zur Erreichung persönlicher und politischer Ziele betrachtet werden.
Übermäßige Introvertiertheit und Pessimismus bieten keine Lösung für unsere Probleme. Wir müssen an ihrer Stelle eine tolerantere (...)

Dieser Artikel erschien im Amerikadienst vom 16.09.1981 unter dem Titel "Eine bestimmte Vorstellung des Menschen: Die demokratische Revolution und ihre Zukunft". Um den vollständigen Artikel zu lesen, klicken Sie bitte hier.

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